29.10.2013

Tálos: „Brauchen mehr soziale Gerechtigkeit“

Politikwissenschaftler über Herausforderungen für den Sozialstaat

"Armut ist selbst in reichen Gesellschaften der EU-Gemeinschaft als reales Phänomen zu einem Thema geworden. Armut ist hier zwar wenig sichtbar, aber nichtsdestoweniger präsent", betonte Emmerich Tálos beim Reformationsempfang in Wien. (Foto: epd/M.Uschmann)

Politikwissenschaftler über Herausforderungen für den Sozialstaat

Wien (epdÖ) – „Wir müssen darauf achten, dass die sozialen Netze nicht weiter ausgehebelt und ihre Maschen loser werden und damit immer mehr Menschen nicht in den Genuss sozialer Leistungen kommen“, forderte der Politikwissenschaftler Emmerich Tálos in seiner Rede beim diesjährigen Reformationsempfang der Evangelischen Kirchen am 29. Oktober in Wien. Maßnahmen wie eine bedarfsorientierte Grundsicherung seien eine gesellschaftspolitische Notwendigkeit, besonders auf junge Menschen habe ein Zurückfahren des Sozialstaates negative Auswirkungen.

In seinem Festvortrag zeichnete Tálos ein alarmierendes Bild der gegenwärtigen österreichischen wie europäischen Lage. Durch die Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse habe die Zahl der von Armut betroffenen wie gefährdeten Menschen in den vergangenen Jahrzehnten massiv zugelegt. Besonders betroffen von dieser Entwicklung sind Jugendliche. Die Arbeitslosenrate liege in diesem Segment weit über dem Durchschnitt. Dies treffe nicht nur auf Länder wie Spanien und Griechenland, sondern auch auf Österreich zu, wenngleich die Lage im Vergleich zu anderen europäischen Staaten noch gut sei. Junge Menschen benötigten daher heute und morgen eine materielle Absicherung, auch aufgrund ihrer Erwerbsbiographie. Auch für Frauen sei das Risiko zu verarmen tendenziell höher, da viele nur teilzeitbeschäftigt sind. „Armut ist selbst in reichen Gesellschaften der EU-Gemeinschaft als reales Phänomen zu einem Thema geworden. Armut ist hier zwar wenig sichtbar, aber nichtsdestoweniger präsent: in anderen, differenzierten und vielfältigeren Formen, als es die lange Zeit verbreiteten Bilder signalisieren“, betonte Tálos. Zu den Gesichtern dieser Armut zähle etwa ein beschränkter Zugang zu Bildung und Ausbildung, Wohnungsunterversorgung, Verschuldung oder ein erhöhtes Krankheitsrisiko. So gebe es einen klaren Zusammenhang zwischen niedrigem Bildungsniveau und Armutsgefährdung. Insgesamt gelten 17 Prozent der österreichischen Bevölkerung als armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. Immer öfter seien auch erwerbstätige Menschen von Armut betroffen, die so genannten „working poor“.

Diese Ausgangslage mache deutlich, dass der Sozialstaat unverzichtbar sei, zeigt sich Tálos überzeugt. Er räumt aber ein, dass der Sozialstaat vor großen Herausforderungen stehe, auch wenn die Finanzierung nicht das einzige und vordergründige Problem sei. „Die Dominanz der Finanzierung in der öffentlichen Diskussion überdeckt vielfach andere gesellschaftlich sehr wichtige Fragen.“ Der Sozialstaat sei heute mehr gefragt denn je, resümierte Tálos. Dazu komme, dass es Bereiche gebe, die durch den Sozialstaat nicht abgedeckt würden – hier leisten zivilgesellschaftliche Institutionen wie die Diakonie eine wichtige Aufgabe, etwa in der Katastrophenhilfe oder bei der Betreuung alter und kranker Menschen. Zwar könnten so Lücken gefüllt und punktgenaue wie individuell gestaltete Hilfestellungen erbracht werden. Die strukturellen und anhaltenden Probleme des Sozialstaates würden damit aber nicht gelöst. So seien beispielsweise Spendenaktionen für Menschen mit Behinderung eine gute Sache, „aber kein Ersatz für eine verantwortliche staatliche Behindertenpolitik“.

Emmerich Tálos präsentiert als Lösungsansatz für die aktuellen Herausforderungen ein „Mehr an sozialer Gerechtigkeit“. „Dies kann durch sozialstaatliche Leistungen bewirkt werden, durch den Ausbau bestehender Sozialleistungen.“ Letztlich gehe es um Sicherung von Leistungs- und Chancengerechtigkeit, die wiederum eine gesellschaftliche Teilhabe aller ermögliche. „Die Sicherung von Teilhabechancen in unserer Gesellschaft ist nicht zum Nulltarif zu haben, allerdings ökonomisch leistbar. Es bedarf dazu der Erweiterung der Einnahmebasis des Sozialstaates – dies wäre einer der Schritte zu einer gerechteren Verteilung.“ Es gehe um den Ausbau von sozialstaatlichen Einrichtungen, die jetzt noch nicht armutsfest seien. Die bedarfsorientierte Mindestsicherung sei so ein Beispiel, auch wenn es sich derzeit noch eher um eine „bedarfsorientierte Minisicherung“ handle. Neoliberalen Wirtschaftskonzepten, die sich für eine Reduzierung des Wohlfahrtsstaates einsetzten, erteilt Tálos jedenfalls eine deutliche Absage. „Wir müssen darauf achten und dafür eintreten, dass der soziale Grundwasserspiegel nicht weiter sinkt. Es gibt für den Sozialstaat und für soziale Institutionen wie Diakonie und Pfarrgemeinden viel zu tun. Die Diakonie sieht darin laut ihrem Leitbild eine unaufgebbare Aufgabe.“

Hinweis:
Honorarfreie Fotos vom Reformationsempfang und von der Verleihung des Diakoniepreises finden Sie zum Download unter: https://evang.at/themen/fotos/
Diese Fotos sind in hoher Auflösung auch zum Druck geeignet, bitte folgenden Nachweis angeben: Foto: epd/Uschmann

ISSN 2222-2464

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