01.11.2017

Sibylle Lewitscharoff: „Reformation als Sprachereignis“

Festvortrag beim Reformationsempfang im Wiener Musikverein

Sprach beim Reformationsempfang über die "Reformation als Sprachereignis": Autorin Sibylle Lewitscharoff. Foto: wikimedia/lesekreis

Festvortrag beim Reformationsempfang im Wiener Musikverein

Wien (epdÖ) ­– In ihrer Rede beim Reformationsempfang im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins am 24. Oktober blickte die Autorin und Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff auf Martin Luther als Sprachbildner und Bibelübersetzer zurück. Zugleich stellte sie das Wirken Luthers in den Kontext seiner Zeit. Hier finden Sie den Vortragstext der Autorin in voller Länge:

„Über Ihre Einladung war ich höchlich erstaunt. Ich ging immer da-von aus, daß es in Wien nicht mehr als zehn Lutheraner geben könne. Bevor ich aber direkt auf den Reformator zu sprechen komme, sei eine kleine Vorbemerkung erlaubt: meine Begeisterung für Wien rührt da-her, daß mein bulgarischer Vater in Wien Medizin studiert hat und ihm sein zweites Exil, das Schwabenland, so vorkam, als hätte es ihn zu den Sauerkrautbauern verschlagen. Was mich vielleicht überdies berechtigt, in Wien zu Ihnen zu sprechen, ist ein Objekt, das aus der Hofburg stammt, nämlich ein Teller aus dem Haushalt Goethes. Er war im Besitz einer Wiener Hofdame, die der Kaiserin Sissi aufwartete, eine Freundin meiner Mutter, die mir den Teller vererbte, hatte dieses Fräulein zur Großmutter. Immerhin ein Fingerzeig, denn Martin Luther hatte starken Einfluß auf Johann Wolfgang von Goethe, insbesondere auf dessen Faust und den Westöstlichen Diwan.

Gegen eine potente, im deutschen Sprachraum verbindlich werdende Bibelübersetzung aus Wien hätte ich im Übrigen nicht das Geringste einzuwenden. Ich würde sie sogar herzlich willkommen heißen, denn die sprachliche Quecksilbrigkeit der Wiener ist außerordentlich – hart, süß, obszön, schwunghaft, komisch – die Wiener spielen auf einer ganz großen sprachlichen Klaviatur, müßten sich im Falle einer Übersetzung der Bibel allerdings ein wenig zügeln, denn die Bibel zündet nur selten ein poetisches Feuerwerk. Sie glänzt vielmehr durch die Knappheit ihrer Sätze und die schwarzen Löcher des Ungesagten, die sich zwischen diesen Löchern auftun. So oder so – die glanzvollen Schmucktaten der Österreicher auf sprachlichem Gebiet sind jedenfalls bewundernswert.

Wäre Franz Kafka in Berlin zur Welt gekommen, wären seine Geschichten tote Hose, so aber, mit Hilfe des langen, langen Zeigefingers von Kaiser Franz Joseph, von dem ein winziger Abrieb wie eine Art Eiderdaunenflocke auf dem Kopfe Franz Kafkas klebte, war er zu den Wundertaten fähig, die er uns hinterlassen hat. Stellen Sie sich bitte nur für einen Augenblick vor, Franz Kafka hätte zumindest den jüdischen Teil der Bibel übersetzt, dabei wäre etwas ungleich Potenteres herausgekommen als die blumige, bisweilen ins Girlandenhafte driftende Bibelübersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig.

„Wildwuchs überrankte die Schrift“

Nun aber endlich zu Martin Luther, der definitiv kein Österreicher war. Man halte sich zunächst vor Augen, wie wenig die biblischen Texte zu seiner Zeit wirklich bekannt waren. Bruchstückhafte Interpretationen hauptsächlich der Scholastik, volkstümliche Geschichten zirkulierten um die Schrift der Schrift, ein regelrechter Wildwuchs überrankte sie. Diese heterogene Schwankmasse war ungleich stärker im Umlauf als die Bibel selbst. Ich möchte an dieser Stelle ein nicht ganz korrektes Bild bemühen, da ein Buch im Wasser aufquillt und alsbald unleserlich wird, aber bitte stellen Sie sich vor, die Bibel hätte jahrhundertelang im Wasser gelegen, Muscheln, Algen, Seepocken und Seeanemonen hätten sie besiedelt, bis Martin Luther den Schatz hob, ihn reinigte und mit verwunderten Augen in ihm las.

Ein wichtiger Sinnspruch kommt dabei zum Tragen, der auch für Luther als Bibelübersetzer gilt: Aus alt mach neu. Man bedenke, die großen Wegbereiter des Neuen sind immer rückbezüglich unterwegs, weil in ihren Köpfen das Gedankengut aus älteren Zeiten als Sprung-Brett für kühnes Ideengut dient. Wer sich dem Neuen verschreibt, benötigt die Würde des Alten, um sich mit gehöriger Autorität zu wappnen. Sich am Alten, fast am Archaischen zu laben, um daraus eine Schneise für das Neue zu schlagen, diese Fähigkeit trifft auf Martin Luther voll und ganz zu. Von neu zu neu allein kommt nix. Da sprühen keine Funken auf, erst recht glimmt da kein einziges Lichtchen vom brennenden Dornbusch zu uns herüber.

Martin Luther ist auch deshalb eine so eine spannende Figur, weil in ihm die Widersprüche enorm sind. Einerseits war er ignorant bis ins Mark, andererseits hochfahrend, mit brennender Energie begabt, ge-tragen von einem außenordentlichen Fleiß und Wissensdurst. Am aufregendsten Geschehen seiner Zeit hatte er gedanklich keinerlei Anteil. Man halte sich vor Augen: das historisch wichtigste Ereignis, welches insbesondere für die spanischen Theologen von enormer Bedeutung war, nämlich die Kolonisierung von Teilen Afrikas und Südamerikas durch Spanier und Portugiesen, fand so gut wie keinen Widerhall in seinem Denken. Hier haben wir den kleinstädtischen Ignoranten vor uns, den ältesten Sohn einer hart arbeitenden Bergbaufamilie, dessen Weltläufigkeit sich darauf beschränkte, einmal in Rom gewesen zu sein. Doch die Wucht der Welt erfaßte ihn spätestens, als er in Worms vor Kaiser Karl V. stand.

„Luther war vom Aufscheinen eines neuen Geschichtsbildes nicht angegränkelt“

Ich habe mich in früheren Jahren mit Texten von spanischen Dominikanern und Franziskanern beschäftigt, die über Mexiko geschrieben haben, überaus spannenden Quellen, in denen versucht wurde, das biblische Wissen über den Ursprung der Welt und den göttlichen Auf-trag an die Menschen mit den Chroniken der Indios in Übereinstimmung zu bringen, gipfelnd in einem mehrbändigen Werk von Fray Gerónimo de Mendieta, der versuchte, jedes ihm bekannte Detail der aztekischen Geschichte vorbedeutend mit der Bibel zu harmonisieren. Der Mann ging dabei unerschrockener vor als der Reformator, der in der jüdischen Bibel nach Fingerzeigen für das Kommen von Jesus Christus fahndete.

Natürlich waren Martin Luther solche Werke nicht bekannt, die sich bereits mit Sprachanalysen und neuen Geschichtskonstruktionen beschäftigten, vor allem aber mit der Frage nach der Verdorbenheit oder Unschuld der Heiden, in denen oftmals die beispiellose Grausamkeit der Kolonisatoren angeprangert wurde. Vom Aufscheinen eines neuen Geschichtsbildes, in der die Genesis zu zittern begann, um allmählich in den luftigen Raum des Metaphorischen zu entweichen, war Luther nicht angekränkelt. Seine Art, das Christentum aufzufassen und zu vertreten, hielt sich in ungleich engeren Grenzen. Aber etliche spanische Theologen, die in dieser Hinsicht moderner waren als Luther und über die Aufgabe des Christentums in der Welt heftig debattierten, wurden von solchen Fragen umgetrieben. Man vergißt dabei allzu leicht, daß es spanische Theologen und Juristen waren, die so etwas wie die Vorform einer modernen welthaltigen Gesetzgebung diskutieren und sich dabei Gefechte lieferten, die sogar vor dem Thron Karl V. ausgetragen wurden, allen voran vom Missionar Bartholomé de las Casas und dem Kronjuristen Juan Ginés de Sepúlveda kurz nach dem Tod des Reformators in der berühmten Disputation von Valladolid.

Kaiser Karl V. war eben nicht nur der Widersacher Luthers, der auch den Sacco di Roma mitzuverantworten hatte, bei dem Tausende niedergemacht wurden. Luther wiederum war diese Barbarei hochwillkommen, weil die Hure Babylon endlich geschleift wurde und Papst Clemens VII. sich nach Zahlung eines erheblichen Lösegeldes nach Orvieto verdrücken mußte. Dabei spielte für Luther keine Rolle, wie viele Unschuldige gemetzelt wurden. Das Leben war kurz. Die Blutsudelei bedeutete nicht viel. Trotz der Greuel, die in seinem Namen verübt wurden, war der Kaiser ein kluger Mann.

„Der Reformator wurde von einem Weltkleinen zu einem Weltgroßen“

In der Zeit, in der Martin Luther lebte, kochten vielerorts Tumulte hoch, wenn auch keine, die so riesige Landstriche verheerten wie später der grauenhafte Dreißigjährige Krieg. Das Aufregende an unserem Reformator ist, daß ein energischer Weltkleiner zu einem Weltgroßen wurde, obwohl er die umstürzlerischen Zeichen der entfesselten handelspolitischen Umtriebe und in deren Schlepp die Konturen eines neuen Geschichtsbildes gar nicht er-kannte. Auch war Martin Luther definitiv kein Mann des Renaissanceluxus, wie er in etlichen oberitalienischen Städten längst anzutreffen war. Zwar erreichte ein schwunghafter Warenverkehr inzwischen auch die kleinen deutschen Städte, die Luther kannte – Eisleben, Eisenach, Wittenberg –, in denen sich das Heraufziehen eines neuen Zeitalters ankündigte, aber Weltpolitik erreichte ihn nur in dreierlei Gestalt: dem verderbten Rom, dem Kaiser und der Türkengefahr, die einigen christianisierten Stammlanden bedrohlich nah gekommen war.

Die Stationen von Luthers Werdegang muß ich Ihnen hier nicht erläutern. Viele von Ihnen wissen gewiß erheblich mehr über den Reformator als ich. Etwa, daß sein Papsthaß gute Gründe hatte, wenn man an den verkommenen Alexander VI. denkt und an den mit Vor-liebe in schwerer Rüstung auftretenden Julius II. Etwas anders wäre der direkte Gegenspieler Luthers zu beurteilen, Papst Leo X., den Luther wegen seines gebildeten Feinsinns und glanzvollen Stils der Repräsentation verachtete. Ein wenig wirkt Luthers Haß wie die über-steigerte Reaktion eines Mannes aus kleinen Verhältnissen, der sich aufgrund religiöser Inbrunst, gewürzt mit theologischem Scharfsinn, einer prunkenden Larve gegenüber überlegen dünkt.

Einiges trennte Martin Luther auch von den Humanisten, die eine Vielzahl an gelehrten Männern auf den geistigen Parcours schickten. Der berühmteste unter ihnen war Erasmus von Rotterdam. Was Luther von einem solchen Mann unterschied, liegt weniger an dessen intellektuellen Fähigkeiten als an der Wucht des inneren Ideengewimmels, der Angst vor der Hölle, dem schicksalserschütterten Tonfall, der das Nahen des Endes der Welt umkreist. Luther besaß einfach nicht das auf Mäßigung gestimmte Temperament eines Skeptikers, der sich im sicheren Gehäus der Vernunft einnistet. So kräftig er vom Körperbau her war, sein Inneres darf man sich vorstellen, als habe es bisweilen wie eine Espe gezittert.

Der kühle, schlanke Erasmus war hingegen ein diplomatischer Charakter, weniger umhergeworfen in einem Wechselbad aus süßen seelischen Ergüssen und einer dräuenden Höllenpein. Denn der Teufel war für Martin Luther durchaus präsent, der große Widersacher war noch längst nicht die verfeinerte, geriebene Figur, die unseren geschätzten Doktor Faustus umtrieb. Der Teufel blieb im Spiel, trotz der göttlichen Gnade, die zum Wölbgehäus von Luthers Theologie wurde.

„Ein Mann, der mit der rhetorischen Faust gern auf den Tisch haute“

Obwohl sich die beiden Männer brieflich einander näherten, und die Satire des Erasmus über Papst Julius II. – Julius vor der geschlossenen Himmelstür –, Luther gefallen haben dürfte, kam es zu einem jähen Ende des Kontakts, als der klug taktierende Erasmus sich nicht zur Partei Luthers erklärte, ihn sogar angriff, weil er eine Nonne geheiratet hatte. Luther schlug nun seinerseits zurück und schrieb: Wer den Erasmus zerdrückt, der würget eine Wanze, und diese stinkt noch tot mehr als lebendig. So war er halt, unser Reformator, ein Mann, der mit der rhetorischen Faust gern auf den Tisch haute und dabei nicht nur päpstliche Wanzen zerdrückte. Trotz ihrer teilweise ähnlichen An-sichten, konnte die Verbindung der beiden Männer nicht gutgehen. Luther war ein begabter Glaubensschäumer, Erasmus ein erudierter Skeptiker trockenern Gemüts, dem jegliche Vulgarität zuwider war. Luther hielt die Gnade Gottes für so umfassend, daß die Mühewaltung des Menschen, diese durch gute Taten zu erlangen, für ihn unerheblich war gemessen am göttlichen Gnadenfluß, der alles Tun und Lassen des Menschen überspülte. Erasmus hingegen pochte auf die Anziehungskraft guter Werke, denen sich die Gnade zuneigt.

Daß der Reformator mit den im Schwange befindlichen Bräuchen der Kirche haderte, kann man im Nachhinein gut verstehen. Der Ablaßhandel hatte sich zu einem monströsen Kuhhandel entwickelt. Landauf, landab setzten tumbe, verlotterte Prediger das grandiose Erbe des Christentum aufs Spiel. Allerdings wurde Luther die himmels-königliche Fürbitterolle, die Maria bei den Katholiken bis heute im Überschwang genießt, nicht gar so suspekt wie den späteren Protestanten, die darin das Rüchlein des Heidnischen witterten. Bis heute geht es ihnen entschieden zu weit, daß sich Maria zu einer Figur aufschwang, die die Trinität um ein Haar zur Tetraktys erweitert hätte.

Luther war nicht so sehr auf die Dreiheit, gar Vierheit erpicht, ob-wohl er den Heiligen Geist nicht aus der Dreifaltigkeitslehre verbannen konnte. Himmel und Hölle sind Zwei. Die dritte vermittelnde In-stanz des Purgatoriums gibt es bei ihm nicht. Er war entschieden ein Mann des Entweder/Oder, und diesen Fehler müssen wir ihm leider ankreiden: auf das Purgatorium zu verzichten, war falsch. Tertium datur heißt ein kluges Buch des Religionswissenschaftlers Klaus Heinrich, bei dem ich studiert habe.

Das Purgatorium als intermediäres Reich, als ein vermittelnder Ort, der die Grenzen zwischen absoluter, immerwährender Sündhaftigkeit und Erlösung offen hält, ist in gedanklicher Hinsicht sehr zu begrüßen. Luther wirkt an dieser Stelle starr. Ich halte es in dieser Hinsicht lieber mit Dantes Divina Commedia, auch wenn ich deren Seelenklassifizierungssystem und die entsprechende Verteilung der darin aufgerufenen Seelen auf Inferno, Purgatorio und Paradiso nicht ganz teilen kann. Die Vorstellung, daß es ein Purgatorium gebe, hält die verbindende Mitte, und sie paßt im Übrigen auch viel besser zum Dreiklang der Dreifaltigkeit, die im Christentum eine hochmögend spekulationsbewimmelte Deutung erfahren hat.

Überspringen wir nun das weltgeschichtliche Drama, in das Martin Luther 1521 in Worms verwickelt wurde, als Kaiser Karl V. dort Hof-tag hielt, und er, Luther, als berühmt berüchtigter Mann in die Stadt einzog, den die neugierigen Bewohner sehen wollten. Etliche von ihnen werden sich schon auf das Spektakel gefreut haben, ihn als Ketzer brennen zu sehen. Sie kennen die Szene gut. Sie wissen alle, wofür Martin Luther stand und nicht anders konnte. Der große Regisseur Patrice Chéreau, der mit seiner bravourösen Bartholomäusnacht einen der besten Filme aller Zeiten lieferte, hätte aus diesem hochdramatischen Wendepunkt der Religionsgeschichte einen weiteren packenden Historienfilm drehen können. Wir aber drehen an der Geschichts-schraube hier nicht weiter, sondern verlassen Worms mit erhöhter Geschwindigkeit, drängen Martin Luther zu raschem Aufbruch, damit er dem Scheiterhaufen entgeht.

Bevor wir zum Schluß einen glanzvollen Übersetzungsbrocken zitieren, sei Luthers aggressives Verhalten gegenüber den Juden er-wähnt. Es muß hier nicht ausgewalzt werden, weil inzwischen viele Schriften erschienen sind, die diese beklagenswerte Seite des Reformators betonen. Anfänglich glaubte er noch, die Juden auf seine Seite ziehen zu können, doch sein Kontakt mit ihnen war äußerst gering, weil die Juden an den Orten, an denen er lebte, fast vollständig ver-trieben worden waren.

„Luther kein Vorläufer der Nazis“

Sein höchst seltener Umgang mit Juden beschränkte sich im wesentlichen auf den ehemaligen Rabbi Jacob Gipher, der sich unter dem Eindruck von Luthers Predigten hatte taufen lassen. Luther hatte große Erwartungen darein gesetzt, die Juden würden sich in Massen zu ihm, will heißen, zu seiner neuen Interpretation der Bibel und den Konsequenzen einer Abkehr von der katholischen Kirche bekennen. Das geschah nicht. Mit zunehmendem Alter wuchsen bei ihm Bösartigkeit und Haß auf die Juden, die sich in vielen hochaggressiven Äußerungen entluden. Martin Luther über einen wilden Ritt der Zeit hinweg zu einem Vorläufer der Nazis zu machen, ist jedoch absurd, obwohl er bei einigen Nationalsozialisten hoch im Kurs stand und die NPD in Sachsen-Anhalt bei der jüngsten Bundestagswahl für ihre Sache mit einem Luther-Plakat warb. Luther war ein Glaubenskämpfer, der die Juden, die Türken und so manchen Katholiken mit derselben Inbrunst haßte und dafür starke Worte in Anschlag brachte. Mit einer Lehre, die die Juden aus rassischen Gründen zum Abschaum der Menschheit erklärte, hatte er jedoch nichts zu tun. Für ihn galten die Juden als verstockt, aber nicht als rassisch kontaminiert. Sein Deutschsein faßte er auch nicht in einem modernen nationalen Sinn auf. Das Land, in das er zufällig hineingeboren worden war, hatte ihn dazu bestimmt, dem Volk, das darauf siedelte, mit seiner Sprachkraft einen gottgefälligen Weg zu weisen.

Das Über’s-Knie-Brechen historischer Vergleiche führt zu so mancher Abstrusität. Da wird Karl Marx schnell mal zum Vorläufer von Stalin, Friedrich Nietzsche zu einem Hitler-Adepten und Martin Luther zu einem Weggefährten Himmlers. Trotzdem ist diese Haltung Martin Luthers tragisch. Es lag durchaus in seiner Hand, eine Aussöhnung mit den Juden zu erwirken, da er dem jüdischen Teil der Bibel eine ungleich höhere Bedeutung zumaß, als es zu seiner Zeit üblich war. Vielleicht liegt darin auch der Hase im Pfeffer. Luther fahndete bei seiner Übersetzung eifrig nach vorbedeutenden Fingerzeigen im Hinblick auf das Erscheinen Jesu Christi, um beide Testamente eng zu verschweißen. Die Kommentare, mit denen er seine Übersetzung der jüdischen Bibel versah, legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Es ging ihm dabei um eine Christianisierung der älteren Überlieferung, und

dieses Bestreben gehorcht auf pikante Weise einer mehrfach durchgespielten Szenerie der jüdischen Bibel: der Erstgeborene ist nicht der wichtige Sohn. Es ist der Zweit- oder später Geborene, auf dem der Segen ruht und der das Blatt wendet.

Martin Luther fühlte sich als Christ, Übersetzer und Interpret zweifellos als der zweitgeborene Segensmann. Unser Reformator war ein Starkzehrer, der kräftig in der Sprachsupp‘ rührte. Er hatte die Fähigkeit, als Knappschafter zu wirken, in den Sprachkeller hinabzusausen, sich rasch wieder in luftige Höhen zu erheben und sprachlich kühn auszuschwingen. Natürlich waren sein Fleiß und sein Wissen enorm – was für eine Bibelübersetzung von großem Vorteil ist, vorausgesetzt, man verzichtet auf allzu exuberante Sprachräusche.

Widmen wir uns zum Schluß einer Stelle, in der Gott höchstselbst in einen Sprachrausch gerät, während Er dem im Aschehaufen sitzen-den Hiob eine gewaltige Standpauke hält. Ein Fest für unseren zupackenden Übersetzer:

„Bistu gewesen da der Schnee her kompt? oder hastu gesehen / wo der Hagel herkompt? Die ich habe verhalten bis auff die zeit der trübsal / vnd den tag des streits vnd kriegs. Durch welchen weg teilet sich das Liecht? vnd aufferet der Ostwind auff er-den? Wer hat dem Platzregen seinen lauff eingeteilet? und den weg dem Blitzen vnd Donner. Das es regent in der Wüsten, auffs Land da niemand ist / in der wüsten da kein Mensch ist. Das er füllet die ein-öden vnd wildnis / vnd macht das gras wechset. Wer ist des Regens vater? wer hat die tropffen des Tawes gezeuget? Aus wes Leib ist das Eys gegangen? vnd wer hat den Reiffen vnter dem Himel gezeuget? … Kanstu den Morgenstern erfur bringen zu seiner Zeit? oder den Wagen am himel vber seine Kinder füren? Weissestu wie der Himel zu regirn ist? oder kannstu jn meistern auff Erden? KAnstu deinen Donner in der wolcken hoch her füren / Oder wird dich die menge des Wassers verdecken? Kanstu die blitzen auslassen / das sie hin fahren / vnd sprechen / Hie sind wir? Wer gibt die Weisheit ins verborgen? wer gibt verstendige gedancken? Wer ist so weise / der die wolcken erzelen könde / wer kann die Wasserschleuche am Himel verstopffen? Wenn der staub begossen wird / das er zu hauff leufft / und die Klösse an einander kleben?“

Nur zu gern würde ich jetzt mit den Blitzen sprechen, die bei Luther so stolz verkünden: Hier sind wir! Vorausgesetzt, sie erhellten nur meinen Geist und blieben dem Leib fern, damit es mir weiterhin vergönnt sei, mich nach Herzenslust durch Martin Luthers Schriften zu wurmisieren.“

ISSN 2222-2464

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