08.06.2024

Erinnern

Michael Chalupka über eine bedeutungsvolle Baulücke auf seinem einstigen Schulweg

Bis 1938 gab es in Graz ein blühendes jüdisches Leben. Seit dem Neubau der Synagoge im November 2000 können sich Jüdinnen und Juden in der steirischen Landeshauptstadt wieder zum Gottesdienst versammeln. (Foto: Depositphotos/tonert)

Michael Chalupka über eine bedeutungsvolle Baulücke auf seinem einstigen Schulweg

Mein täglicher Schulweg führte mich über die Augartenbrücke in Graz. Nach der Brücke ging mein Weg an einer Baulücke vorbei, an einer unauffälligen Wiese, die nur zeigte, dass da etwas fehlte in der sonst so geschlossenen Häuserzeile am Kai. Viele Jahre ließ ich die Wiese links liegen, ohne sie näher zu beachten.

Erst knapp vor der Matura, wir hörten im Religionsunterricht das erste Mal vom Antisemitismus, habe ich auf dieser Wiese den Gedenkstein für die im Novemberpogrom 1938 abgebrannte Synagoge, entdeckt. Und erst später hat mir meine Mutter erzählt, dass sie als Kind die Synagoge brennen gesehen hatte, und sie sich noch daran erinnern konnte und wollte, dass Juden in Graz gelebt hatten und dann einfach verschwanden, in Auschwitz und anderswo.

Es hat lange gebraucht bis ich die schreckliche Bedeutung der brachen Wiese, die mein Schulweg täglich kreuzte, erkannt habe. Noch länger dauerte es, dass sich die Kirchen zu ihrer Mitschuld am Holocaust bekannt haben. Die Matura lag lange hinter mir, ich war schon Pfarrer, als die Synode der Evangelischen Kirchen 1998 bekannte: „Nicht nur einzelne Christen, sondern auch unsere Kirchen sind am Holocaust mitschuldig geworden.“

Darüber bin ich froh und auch über den Entschluss der Stadt Graz, die die Synagoge wieder aufgebaut hat, denn das gibt meinen kleinen Nachfolgern auf dem Weg zur Schule früher zu denken, als mir einst das Stück Grün.

ISSN 2222-2464

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Judentum | Chalupka

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