16.07.2010

Ökumenische Sommerakademie: Finanzkrise nicht Schuld Einzelner, sondern eines Systems

Ethische Fragen angesichts der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise

Ethische Fragen angesichts der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise

Linz (epd Ö) – Schuld an der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise sind nicht irgendwelche „Bosse“, sondern ist das gesamte System mit – in abgestufter Form – allen, die davon in irgendeiner Weise profitieren: Das war Tenor der Ausführungen des Wiener Volkswirtschaftlers Erich Streissler, des Linzer Finanzwirtschaftlers Teodoro Cocca und des Innsbrucker Sozialethikers Herwig Büchele bei der Ökumenischen Sommerakademie in Kremsmünster. Bei der Veranstaltung zum Thema „Gerechtigkeit will ich – Christliche Provokation für die Ökonomie“ diskutierten prominente Wirtschaftswissenschafter und Theologen über die ethischen Fragen, die in der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzmarktkrise besonders aktuell geworden sind.

 

Cocca, Leiter der Abteilung für Asset-Management an der Johannes-Kepler-Universität Linz, erläuterte, dass die Suche nach „Schuldigen“ ins Leere gehe. Letztlich komme man bei der „Systemfrage“ an: Banken, Investoren, interne Kontrollen, Wirtschaftsprüfer, Aufsichtsbe-hörden und Politik – alle hätten versagt. Das Fundament gelegt habe jedoch die Finanzwissenschaft mit der Erfindung von Risikomodellen, mit Modellen zur Bemessung der Risiken, mit dem Glauben an die Kontrollierbarkeit der Risiken, was sich jedoch als „Scheinkontrolle“ erwiesen haben, erklärte Cocca. Eine Konsequenz aus all dem sei die Forderung nach Gerechtigkeit im Finanzwesen: strengere Auflagen bei der Bankenrettung, eine Bankensteuer, Limits bei Boni und Gehältern der Bankmitarbeiter. Verlierer der Krise sei wahrscheinlich der Sozialstaat bzw. der Wohlfahrtsstaat, prognostizierte Cocca.

 

Michaela Moser, Vizepräsidentin der Europäischen Armutskonferenz, berichtete, dass es in der EU gar keiner Finanzkrise bedurft hätte, damit die Schere zwischen Reich und Arm weiter auseinanderginge. Armut betreffe mittlerweile nicht mehr nur die Risikogruppen, sondern auch Menschen in Beschäftigung, vor allem Selbstständige. Der Europäische Rat habe Maßnahmen gegen die Armut verschoben und für 2020 angesetzt. „Doch Armutsbetroffene können nicht warten“, mahnte Michaela Moser.

 

Währung an reale Werte binden

 

Man dürfe Armut in südlichen Ländern nicht mit der Armut in Europa vergleichen, erläuterte die Expertin. Man müsse auch zwischen absoluter Armut (ein Dollar am Tag) und relativer Armut (60 Prozent des Gehalts werden sofort verbraucht) unterscheiden. Moser erinnerte, dass Armut soziale Ausgrenzung erzeuge und psychische Probleme meist Begleiterscheinungen seien. Dabei gehe die Kluft zwischen Reich und Arm immer weiter auseinander. Als Theologin fordere sie mehr Armutsarbeit und eine „Theologie der Praxis“ mit „einem Fuß im Sozialwesen“, so Moser: Die Ressourcen müssten für alle reichen; zumindest Teile der Gesellschaft müssten Gerechtigkeit vorleben. „Wir sollten soweit für gerechte Verhältnisse sorgen, dass die Kluft nicht noch weiter auseinanderbricht. Wir wissen aus Studien und Erfahrung, dass es der ganzen Gesellschaft besser geht, wenn die Kluft zwischen Arm und Reich nicht sehr groß ist.“ Hans Diefenbacher, Volkswirtschaftler aus Heidelberg, forderte in seinem Vortrag, dass die finanzielle Situation der ärmsten Länder der Welt verbessert werden müsse. Er trat für eine teilweise Wiederregulierung der Finanzmärkte ein und regte an, über eine erneute Bindung von Währungen an reale Werte nachzudenken.

 

Aus biblischer Sicht habe Gerechtigkeit „mit der gelingenden Beziehung von Menschen zu tun“, betonte Wolfgang Huber, ehemaliger Bischof von Berlin und ehemaliger Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Huber sprach bei der Sommerakademie über „Soziale Gerechtigkeit als biblische Forderung“. Wichtig seien wechselseitiges Anerkennen und Wahrnehmen der Menschen sowie das Achten auf das Wohl des jeweils anderen wie auf das eigene: „Und das anzuwenden auf die heutige Zeit, in der Menschen so stark darauf aus sind, nur auf das Eigene zu schauen; in einer Zeit, in der die Unterschiede und Gegensätze zwischen Arm und Reich, Wohlstand und Arbeitslosigkeit in der ganzen Welt wachsen“, sei „eine sehr dringliche Aufgabe“.

 

Als eine „Nährstätte der Reflexion für Themen, die eine Unterfütterung unserer Tätigkeit sind“, bezeichnete der Präsident der Diakonie Österreich, Roland Siegrist, die Sommerakademie. Ohne Reflexion und Hinterfragen der eigenen Arbeit über das Evangelium wären Diakonie und Caritas „reine Sozialarbeit“. Diese könne auch „sehr hochwertig, fachlich und anerkennenswert“ sein, „aber uns wäre das zu wenig; wir wollen dem Anspruch, aus dem Evangelium tätig zu sein, in gewisser Weise – natürlich immer mangelhaft – gerecht werden“. Dazu bräuchte es Veranstaltungen wie die Sommerakademie, in denen theologische, ökonomische, soziale und wissenschaftliche Fragen reflektiert würden. Die Sommerakademie sei eine „intelligente Heerschau“ von Menschen aus den verschiedenen christlichen Konfessionen und Kirchen, die ein gemeinsames Ziel hätten: „mitzuhelfen, dass man diese Welt, diese Gesellschaft prägt, aber auch mitzuhelfen, dass man in einer ganzen Reihe von Grundfragen des Lebens und der Gesellschaft in der Lage ist, sich sachgerecht einzuschalten“, sagte der Präsident der Caritas Österreich, Franz Küberl.

 

Feierlich abgeschlossen wurde die Sommerakademie mit einem ökumenischen Gottesdienst in der Stiftskirche von Kremsmünster, den unter anderen der evangelisch-lutherische Altbischof Herwig Sturm, der oberösterreichische Superintendent Gerold Lehner und der Linzer Bischofsvikar Severin Lederhilger gestalteten. Ziel der Ökonomie müsse es sein, die Grundbedürfnisse aller Menschen zu befriedigen, so Sturm in seiner Predigt. Milliarden Euro seien für die Rettung von Banken aufgewendet worden, hingegen stünden „nur“ 140 Millionen Euro für die Mindestsicherung zur Verfügung, kritisierte Sturm: „Das sind armselige Maßnahmen für die Armen und großzügige Maßnahmen für die Reichen.“ Der Altbischof sprach von einer „Unersättlichkeit“ und verwies als wirtschaftlichen Gegenentwurf auf das Evangelium von der Speisung der Fünftausend und der wundersamen Brotvermehrung. Jesus habe Brot und Fisch an alle Menschen gleich verteilt, „und alle wurden satt“.

ISSN 2222-2464

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