09.10.2019

Expertenrunde: Scham als Faktor für soziale Ausgrenzung

Diskussion über Mehrsprachigkeit und die soziale Hängematte

"Kein Recht, Menschen wegzuräumen, die mir unangenehm sind.“ Furche-Chefredakteurin Doris Helmberger-Fleckl moderierte, es diskutierten die Germanistin İnci Dirim, Diakonie-Sozialexperte Martin Schenk und die Theaterwissenschaftlerin Elisabeth Bernroitner (v.l.). Foto: epd/Windisch

Diskussion über Mehrsprachigkeit und die soziale Hängematte

Wien (epdÖ) – Inwiefern zwischenmenschliches Verhalten Personen und ganze Personengruppen oft ungewollt unsichtbar macht – also sozial ausgrenzt – haben Expertinnen und Experten am Donnerstag, 2. Oktober, im Wiener Albert Schweitzer Haus erörtert. Bei einer Podiumsdiskussion skizzierten die Germanistin İnci Dirim, die Theaterwissenschaftlerin Elisabeth Bernroitner und Diakonie-Sozialexperte Martin Schenk die Situation sozialer Randgruppen wie Migranten, Obdachloser oder Menschen mit Behinderung. Fazit in der von Furche-Chefredakteurin Doris Helmberger-Fleckl moderierten Runde: Soziale Unsichtbarkeit wird zwar durch einen Mehrheitsdiskurs bestimmt, auf Seiten der betroffenen Minderheiten aber durch Gefühle wie Scham verstärkt.

Germanistin Dirim: Kritik an Deutschförderklassen

„Wenn in einer Schule auf vielen verschiedenen Sprachen ‚Willkommen‘ steht, die Sprachen aber sonst keine Rollen spielen, dann unterstreicht man damit nur ihre Marginalität: Das ist eine Mitleidsbekundung“, kritisierte die Wiener Germanistikprofessorin İnci Dirim oftmals gutgemeinte Integrationsansätze. Von den seit einem Jahr laufenden separaten Deutschförderklassen hält Dirim wenig. Dadurch würden Kinder zu stark von Gleichaltrigen abgesondert. Deutschförderklassen fokussierten zu stark auf den Prozess der Sprachaneignung und blendeten die sozialen Prozesse dahinter aus. „Wenn Sie Kinder und Jugendliche fragen sind für sie ganz andere Themen wichtig: Schauspieler, Urlaubsorte, Freunde. Es gibt viele Aspekte, die Identität bestimmen.“

Sozialexperte Schenk: „Ein Drittel nimmt Mindestsicherung nicht in Anspruch“

Wie das Bild anderer von einer Person auf deren eigenes Selbstbild wirkt schilderte der Sozialpsychologe Martin Schenk: „Wenn ich mich als jemand von unten durch den Blick der anderen bedroht fühle, dann bringe ich schlechtere Leistung. Wo aber Anerkennung und Wertschätzung vorherrschen, dort ist es leichter, an sich selbst zu glauben.“ Scham spiele dabei eine wesentliche Rolle, so der Mitbegründer der Armutskonferenz. Entgegen aller Vorurteile von der Mindestsicherung als „sozialer Hängematte“ nehme etwa ein Drittel der Bezugsberechtigten die Mindestsicherung nicht in Anspruch: „Der Hauptgrund ist soziale Scham.“ Dieser unsichtbaren Armut stehe aber noch eine viel geringere, sichtbare gegenüber. Sie finde in der immer wieder aufflammenden Diskussion um Bettelverbote starke mediale Resonanz. Schenk kann das Unbehagen gegenüber öffentlich bettelnden Personen zwar nachvollziehen, macht aber auch klar: „Es gibt kein Recht, Menschen wegzuräumen, die mir unangenehm sind.“

Theaterwissenschaftlerin Bernroitner: „Stelle Frage ‚Woher kommst du?‘ nicht“

Die aktuelle Kulturlandschaft, die einen großen Teil der Bevölkerung – etwa Migrantinnen und Migranten – nicht berücksichtige, bemängelte die Theaterwissenschaftlerin Elisabeth Bernroitner. Die Leiterin des Theater- und Performancebereichs des Wiener Kunstprojekts Brunnenpassage will mit ihren Projekten nicht nur die Diversität des Publikums, sondern auch der Kunstschaffenden fördern: „Wir haben zum Beispiel mehrsprachige Flyer, die wir als Einladungskarte verstehen, die immer mit einem persönlichen Gespräch verbunden ist, bei dem wir das Programm erklären.“ Dennoch werde niemand nach seiner oder ihrer Herkunft gefragt, da das immer mit einer impliziten Ab- oder Ausgrenzung verbunden sei: „Die Frage ‚Woher kommst du?‘ habe ich sehr oft gehört, ich beantworte sie auch höflich, aber ich stelle sie niemandem.

Auftaktveranstaltung zu Bildungs-Kooperation

Die Podiumsdiskussion war der Auftakt zu einer siebenteiligen Veranstaltungsreihe von Albert-Schweitzer-Haus-Forum, Katholischem Bildungswerk und Wiener Volkshochschulen, die die Bedeutung allgemeiner Erwachsenenbildung stärken soll. Deren Budgets seien seit 1994 eingefroren, kritisierte der evangelisch-lutherische Bischof Michael Chalupka, bis September Geschäftsführer der Diakonie Bildung: „Wir haben eine Trichter-Erwachsenenbildung, bei der man nur mehr Titel und Qualifikationen erwirbt.“ Nach Marcus Gremel, Abgeordneter zum Wiener Landtag und Gemeinderat der Stadt Wien, solle die Veranstaltungsreihe „den Stellenwert der Erwachsenenbildung auf ein Podest stellen und Gusto auf gemeinsames Lernen machen“. Hubert Petrasch vom Katholischen Bildungswerk versteht die Erwachsenenbildung als „Orientierungshilfe“ in einer Zeit, in der Wissen zwar überall und jederzeit abzurufen sei, sich die Menschen aber in der Informationsflut nicht mehr auskennen. Und Herbert Schweiger, Geschäftsführer der Wiener Volkshochschulen, sieht in der Erwachsenenbildung das „Bindeglied zur beruflichen Weiterbildung“, da ihr Erfolgsmodell in der Freiwilligkeit und Ausrichtung an persönlichen Interessen bestehe.

Alle Infos und Termine zu der Veranstaltungsreihe unter www.bildenwir.wien.at

ISSN 2222-2464

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