01.01.2023

Ich sehe dich!

Julia Schnizlein über das menschliche Bedürfnis, wahrgenommen zu werden

Das Bedürfnis, gesehen zu werden, steckt tief in allen Menschen, und es wächst sich auch nicht aus. (Foto: vsbonvenuto/pixabay)

Julia Schnizlein über das menschliche Bedürfnis, wahrgenommen zu werden

„Schau mal, Mama!“ Ein Satz, den alle Eltern schon unzählige Male gehört haben. Und was sie dann zu sehen bekommen, ist eher selten eine rekordverdächtige Meisterleistung. „Schau mal, wie ich rutschen kann. Schau mal, was ich gebastelt habe. Schau mal, was Lea mir geschenkt hat… Schau mir zu!“ Kinder wollen in ihrem Alltag gesehen werden. Es geht dabei nicht um Lob oder Wertschätzung, sondern in erster Linie darum, wirklich wahrgenommen zu werden.

Das Bedürfnis, gesehen zu werden, steckt tief in allen Menschen, und es wächst sich auch nicht aus. Nur fordern wir es mit zunehmendem Alter nicht mehr so ungefiltert und lautstark ein wie in jungen Jahren. Aber gegen den Schmerz, wenn man eben doch übersehen wird, ist niemand immun. Der Schmerz kommt so unvermittelt, als hätte man auf eine heiße Herdplatte gegriffen: wenn die Chefin den Mitarbeitenden dankt und die eine vergisst, wenn sich der neue Nachbar zum x-ten Mal vorstellt, weil er sich an die letzte Begegnung nicht erinnern kann, wenn der Ehemann wieder nicht bemerkt, dass man Stunden beim Friseur zugebracht hat…

Gesehen werden ist ein Grundbedürfnis. Genau wie Essen, Trinken oder Schlafen. Die Jahreslosung, also der biblische Leitvers für das neue Jahr, greift dieses Thema auf. Sie heißt: „Du bist ein Gott, der mich sieht“ (Genesis 16,13). Immer wieder wurde diese großartige Zusage zur Drohkulisse umgedeutet, um andere gefügig zu machen. „Der liebe Gott sieht alles!“, also jeden noch so kleinen Fehltritt, jede Unterlassung und jeden bösen Gedanken.

Ich glaube tatsächlich, dass Gott alles sieht. Aber nichts kann ihn von uns abbringen. Oder um es mit den Worten des Theologen Dietrich Bonhoeffers zu sagen: „Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten.“

Gott sieht uns. Nicht nur in der Momentaufnahme, sondern mit allem, was war, was ist und was kommt. Er wirft nicht nur einen kurzen Blick auf uns, sondern nimmt uns zur Gänze wahr. Und was er da wahrnimmt, das können wir auf den ersten Seiten der Bibel nachlesen: Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte; und siehe, es war sehr gut.

ISSN 2222-2464

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Schlagworte

Bibel | Schnizlein | Bonhoeffer

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