16.08.2021

Zivilisation der Liebe

Maria Katharina Moser über eine ständige Aufgabe

"Wer vorbei geht an dem, der verletzt am Straßenrand liegt, fällt hinter den Beginn der Zivilisation zurück." Foto: pixabay

Maria Katharina Moser über eine ständige Aufgabe

Was verbinden Sie mit Zivilisation? Mit Messer und Gabel essen und in ein Taschentuch niesen, oder Schrift und Kunst, oder den Rechtsstaat?

Was Zivilisation eigentlich ist und wie sie sich entwickelt, beschäftigt die so genannte Kulturanthropologie. Eine ihrer frühen weiblichen Vertreterinnen ist Margaret Mead, sie war besonders in den 1960iger und 70iger Jahren bekannt. Auf die Frage, was erste Zeichen von Zivilisation in einer Kultur sind, meinte Mead: nicht etwa die Entdeckung des Feuermachens, Sesshaftigkeit, Tontöpfe oder Angelhaken. Sondern: wenn man beim Fund eines Oberschenkelknochens feststellen kann, dass der Knochen gebrochen war und verheilt ist. Wenn sich ein Tier ein Bein bricht, stirbt es. Denn es kann nicht mehr nach Nahrung suchen oder jagen oder vor Feinden flüchten. Kein Tier überlebt lange genug, dass ein gebrochener Knochen heilen würde. Ein verheilter Knochen ist ein Hinweis darauf: Hier hat sich jemand um den Verletzten gekümmert, hat seine Wunde verbunden, ihn in Sicherheit gebracht und gesund gepflegt. Sorge ist der Beginn der Zivilisation.

Die jüdisch-christliche Tradition nennt diese Sorge Nächstenliebe. Die Nächstenliebe stammt aus dem Ethos der guten Nachbarschaft, wie es auch die Kulturen rund um das biblische Israel kannten. In der Bibel gilt die Nächstenliebe nicht nur den „eigenen“ Leuten, sondern auch dem Fremden.

Im Neuen Testament erzählt Jesus im Gleichnis vom barmherzigen Samariter von der Nächstenliebe. Ein Gesetzeslehrer, der mit Jesus über das Doppelgebot der Liebe spricht, fragt Jesus, wer denn sein Nächster sei. Als Antwort erzählt Jesus die Geschichte von einem Menschen, der halbtot am Straßenrand liegt, nachdem er überfallen, ausgeraubt und niedergeschlagen wurde. Ein Priester und ein Levit, ein Tempeldiener, gehen vorbei. Da kommt ein Mann aus Samaria, ein Heide in den Augen der Juden. Er bleibt stehen, versorgt die Wunden des Verletzten, bringt ihn in die nächste Herberge und bezahlt den Wirt, damit er ihn weiter versorgt. „Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war?“ fragt Jesus am Ende der Geschichte und fordert den Gesetzeslehrer auf, es dem Samariter gleich zu tun.

Auch in diesem Gleichnis ist die Sorge das Herz der Zivilisation, und es erzählt, dass die Zivilisation eine beständige Aufgabe ist. Denn wer vorbei geht an dem, der verletzt am Straßenrand liegt, fällt hinter den Beginn der Zivilisation zurück.

ISSN 2222-2464

Diesen Beitrag teilen

Schlagworte

Moser

Newsletter abonnieren

Der Newsletter von evang.at mit den wichtigsten Nachrichten des Evangelischen Pressedienstes (epd) ist kostenlos und erscheint in der Regel einmal pro Woche am Mittwoch.