12.06.2019

Fresacher Toleranzgespräche fragten: „Wem gehört Europa?“

Sauer: Das Denken durchlüften – Bettini: Vermischung als Kraft statt Schwäche

Ein "offenes Haus des Denkens, Streitens und Ringens" sollten die Toleranzgespräche sein, meinte Superintendent Manfred Sauer bei deren Eröffnung. Foto: Fotodienst/Mike Kampitsch

Sauer: Das Denken durchlüften – Bettini: Vermischung als Kraft statt Schwäche

Fresach (epdÖ) – „Wem gehört Europa?“ Diese Frage stellten die diesjährigen Europäischen Toleranzgespräche, die von 6. bis 8. Juni unter dem Titel „Heimat Fremde Erde“ in Fresach und Villach stattfanden. „Wir wollen mit den Toleranzgesprächen ein offenes Haus des Denkens, Streitens und Ringens sein“, sagte der evangelische Superintendent von Kärnten und Osttirol, Manfred Sauer, bei der Eröffnung. Angst schotte ab, sperre aus und mache „die Luken dicht“. In der biblischen Pfingstgeschichte „reißt der Heilige Geist die Türen auf und durchlüftet das Haus“. Die Toleranzgespräche wollten dazu helfen, „das Denken zu durchlüften“, so der Superintendent, für ein Europa „als offenes Haus ohne Maschendrahtzäune, Wir-sind-wir-Mentalität und nationalistische Hinterzimmer“.

In einem Europa, das von inneren Konflikten gekennzeichnet sei, brauche es „einen neuen Humanismus“, meinte der langjährige Europapolitiker Hannes Swoboda. Der Mensch müsse wieder im Mittelpunkt stehen, das „Wir“ vor dem „Ich-Prinzip“ kommen. „Europa gehört jenen, die es pfleglich verwalten und pfleglich weitergeben an die nächste Generation“, sagte der Präsident des hinter den Toleranzgesprächen stehenden „Denk.Raum.Fresach“. Wenn die soziale Frage nicht gelöst werde, „werden Menschen nicht das Gefühl haben, dass ihnen Europa gehört“.

Toleranz sei ein „anspruchsvoller Wert“, um den man sich bemühen müsse, bekräftigte der römisch-katholische Diözesanadministrator Engelbert Guggenberger. Toleranz erfordere aber auch Verzicht und Teilen, gerade Spiritualität und Religion könnten hier Kraft geben. Heimat könne „eine kleine Stecknadel in der Landkarte“ sein, aber auch Europa, das als Friedensprojekt begonnen und sich „über 70 Jahre erfolgreich bewährt“ habe, sagte der Kärntner Landtagspräsident Reinhart Rohr in seinem Grußwort.

Den Eröffnungsvortrag der heurigen Toleranzgespräche hielt der in Siena lehrende Sprach- und Literaturwissenschaftler Maurizio Bettini. In der Geschichte Roms sieht Bettini ein „brauchbares Modell für Europa“, denn Rom habe von Anfang an im Gegensatz zur Entwicklung in Athen „Vermischung als Kraft und nicht als Schwäche“ gesehen. Er, Bettini, habe sich nie damit abgefunden, dass die kulturelle Identität von Wurzeln ableitbar sein solle. „Wenn man sich kulturelle Identität wie das Wurzelwerk einer Pflanze vorstellt, dann erhält sie eine hölzerne, unveränderliche Konsistenz“, erklärte der Wissenschaftler. Stattdessen gehe es bei der kulturellen Identität um ein „hoch bewegliches, nicht fassbares Phänomen“. Derzeit erlebe man, „wie sich Länder verschließen und nach innen autoritär regieren“, analysierte Bettini. Doch Europa gehöre nicht jenen, „die ihrem Kontinent die einzig wahre Identität“ verordnen wollen, sondern jenen, die sich „für die gerechteste, offenste und für alle akzeptabelste“ Tradition entscheiden. Vor allem junge Menschen hätten hier bereits ihre Entscheidung im Sinne des römischen Modells getroffen: „Sie sehen in Europa keinen Wald mit unverrückbaren Bäumen, sondern einen Fluss mit vielen Zuflüssen.“ Jeder und jede bringe in das Land seiner bzw. ihrer Wahl „ein Stück Heimaterde“ ein.

In Fresach tauschten sich rund 40 WissenschaftlerInnen, DichterInnen und DenkerInnen über das Thema Heimat aus. Bereits am Mittwoch, 5. Juni, wurde in Villach das Schwerpunktthema aus der Perspektive Jugendlicher behandelt, ein Tourismusforum ging auf Fehlentwicklungen im Fremdenverkehr ein. Diesmal vermeldeten die Organisatoren einen Besucherrekord: Knapp 800 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren in Fresach zugegen, rund 200 waren es beim Eröffnungsempfang in Villach. Mehr als 500 Menschen verfolgten die Debatten und Vorträge über den Live-Stream im Internet.

ISSN 2222-2464

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