07.02.2021

Was brauchst du?

Maria Katharina Moser über selbstbestimmtes Leben im Alter

"'Wärme braucht der Mensch', sagt Frau S." Foto: Diakonie

Maria Katharina Moser über selbstbestimmtes Leben im Alter

„Wärme braucht der Mensch“, sagt Frau S. Ich habe sie kennengelernt bei einem Besuch in einem Tageszentrum für Menschen mit Demenz, noch vor Corona. Sie ist gelernte Schneiderin, hat als Zahntechnikerin gearbeitet und in ihrer Freizeit mit ihrem Mann Motoren zerlegt, erzählt mir Frau S., während wir gemeinsam an einem Mosaik arbeiten. Dann zeigt mir Frau S. eines ihrer fertigen Werke: ein Sonnenblumen-Mosaik. Das Motiv hat Frau S. gewählt, weil Sonnenblumen Wärme ausstrahlen. „Das ist für uns hier im Tageszentrum so wichtig, dass Menschen da sind und uns helfen und Wärme ausstrahlen“, erklärt sie.

In der Diskussion um die Pflegereform, die voriges Jahr begonnen hat und heuer umsetzt werden soll, muss ich immer wieder an diese Begegnung denken. Denn am Beispiel Tageszentren zeigt sich ein Grundproblem: Menschen mit Pflegebedarf können sich im Wesentlichen nur zwischen Pflegeheim und mobiler Pflege entscheiden. Andere Angebote gibt es nicht überall, und wenn es sie gibt, können sie sich die Menschen oft nicht leisten. So kommen auf 460.000 Pflegegeldbeziehende nur 8.000 Plätze in Tageszentren. Das System bestimmt das Angebot, und nicht der Mensch.

Um das zu ändern, hat die Diakonie, die Sozialorganisation der Evangelischen Kirchen, ein Reformkonzept vorgelegt: „SING – Seniorenarbeit Innovativ Gestalten“. Im Zentrum stehen Menschen im Alter und die Frage: „Wie willst du leben?“ Diese Frage finden wir ähnlich schon in der Bibel. Das Markus-Evangelium erzählt von der Begegnung zwischen Jesus und dem blinden Bettler Bartimäus. Jesus stellt Bartimäus die entscheidende Frage: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ Bei SING stellen so genannte Pflegelotsinnen diese Frage. Sie überlegen gemeinsam mit den Betroffenen, wie diese leben wollen, welche Unterstützung sie dafür brauchen und welche Dienstleistungen es gibt. Darüber hinaus leiten die PflegelotsInnen die Bedarfe ihrer KlientInnen an Sozialorganisationen weiter, die gefordert sind, passende Angebote bereit zu stellen. Die Betroffenen können das für sie passende Angebot mit einem so genannten Autonomiebeitrag, der aufs Pflegegeld draufgelegt wird, „einkaufen“.

Menschen wollen und sollen selbst bestimmen können, wie sie leben. Dazu gehört auch, Hilfe zu brauchen. Das ist keine Schwäche, sondern normal. Und es zeugt von Stärke, sagen zu können, was man will und braucht. So wie Frau S., die handwerken will und die sagt: Wärme braucht der Mensch.

ISSN 2222-2464

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Pflege | Moser

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