29.12.2019

Von Altem und Neuem

Julia Schnizlein über die Geschichten, die uns ausmachen

"Alles was war, macht uns aus. Es gehört zu uns, ob wir das wollen oder nicht. Es macht uns zu den Menschen, die wir heute sind." Foto: pixabay

Julia Schnizlein über die Geschichten, die uns ausmachen

Nur noch drei Tage – dann ist es da, das neue Jahr. Frisch und unverbraucht liegt es vor uns. Voller Gestaltungsmöglichkeiten und Überraschungen. Ein Jahr, in dem wieder neue Geschichten geschrieben werden können. Das erinnert mich an das Gefühl, das ich als Schülerin immer hatte, wenn endlich wieder ein Schulheft vollgeschrieben war. Wenn ich sie nicht mehr sehen musste, die Eselsohren, die Korrekturen und die mit Rotstift fett markierten Fehler. Ich war froh, wenn ein neues, unverbrauchtes Heft vor mir lag. Alles konnte neu werden. Alles konnte besser werden. Das Alte: Aus den Augen aus dem Sinn.

Heute führe ich immer noch Hefte. Eigentlich sind es Bücher. Ein schwarzes: Mein Beerdigungsbuch. Dort sind Biografien von Menschen dokumentiert, die heute nicht mehr unter uns sind. Wertvolle Erinnerungen. Schmerzhafte Erfahrungen. Bleibende Momente.

Ich führe ein Taufbuch. Es ist grün. Dort habe ich all die Hoffnungen aufgeschrieben, die Eltern für ihre Täuflinge haben. Wünsche, die sie ihnen mit auf den Weg geben. Gefahren, vor denen sie sie beschützen wollen…

Und dann ist da mein Traubuch. Es ist blau und handelt von sehr viel Liebe. Von Kennenlernen und ersten Küssen. Von Weggabelungen, ersten gemeinsamen Wohnungen und Heiratsanträgen. Manchmal auch von schwierigen Zeiten, Trennungen und Neuanfängen.

Immer wenn heute eines dieser Bücher vollgeschrieben ist, empfinde ich Wehmut. Dann nehme ich mir noch einmal einen Moment der Ruhe. Blättere in den vielen Lebensgeschichten, spreche ein Gebet und bin dankbar, für das, was war. Für das, was mir anvertraut wurde, woran ich teilhaben durfte und was auch zu einem Teil meines Lebens wurde.

Heute schlägt sich ein neues Kapitel nicht mehr so leichtfertig auf, wie in meiner Kindheit. Heute weiß ich, dass Altes nicht einfach durch Neues zu ersetzen ist. „Aus den Augen aus dem Sinn“ – das funktioniert so nicht.

Alles was war, macht uns aus. Es gehört zu uns, ob wir das wollen oder nicht. Es macht uns zu den Menschen, die wir heute sind. Keine Flucht nach vorn, kein Jobwechsel, keine neue Partnerschaft, kein neues Kapitel und kein neues Jahr können die Eselsohren der Vergangenheit auslöschen. Aber das müssen sie auch nicht.

Neuanfang bedeutet auch, mit dem Alten Frieden zu schließen. Es bedeutet, dem was war ins Auge zu blicken. Die Jahreswende ist eine gute Gelegenheit, zurückzublicken. Auf das, was uns gelungen ist, aber eben auch auf das, was weniger gelungen ist. In der Gewissheit, dass Neuanfänge immer möglich sind. Auch in fortgeschrittenen Jahren: „Verlieren wir nicht den Mut. Wenn auch unser äußerliches Menschsein verfällt, so erneuert sich doch das innere Tag um Tag.“ (Paulus)

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ISSN 2222-2464

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