28.02.2011

Tagung: „Evangelische Identitäten nach 1945“

Hennefeld: Evangelische Kirche wichtige Stimme im gesellschaftspolitischen Diskurs

"Evangelisch auf Österreichisch. Zwischen Herkömmlichkeit und Zukunftsoffenheit" lautete das Motto, unter das der reformierte Landessuperintendent Thomas Hennefeld seinen Vortrag stellte.

Hennefeld: Evangelische Kirche wichtige Stimme im gesellschaftspolitischen Diskurs

Wien (epd Ö) – Evangelisch sei „Lebenspraktisches, Angenommensein und Musik“, es bedeute „wohlwollendes freundschaftliches Gewusst-Wo“, die evangelische Gemeinde sei zahlenmäßig überschaubar und gekennzeichnet durch einen „herzlichen Umgang“, die Diakonie stehe für „lebenslustige Verantwortung mit ernstem Hintergrund“. Mit diesen Stichworten charakterisierte die römisch-katholische Medienberaterin Karin Lehmann in ihrem Referat „Der Blick von außen aufs Evangelische“ Hauptmerkmale, die sie mit der Evangelischen Kirche in Österreich verbindet.

In ihrem Vortrag am 24. Februar auf der von der Evangelischen Akademie Wien veranstalteten Tagung zum Thema „Evangelische Identitäten nach 1945“ nannte Lehmann auch kritische Beobachtungen. So seien die evangelischen Gemeinden auf Grund ihrer „verwickelten Struktur“ sehr mit sich selbst beschäftigt. „Ein Unternehmen, das so organisiert wäre, könnte nicht funktionieren“, merkte Lehmann an, räumte aber ein, dies hänge mit dem demokratischen Prinzip zusammen. Insgesamt sei die evangelische Kirche „ein komplexes Gebilde mit starkem Eigenleben und Scheu vor Provokation“. Die Medienfachfrau begrüßte es, dass der Bischof vermehrt in öffentlichen Diskussionen auftrete, allerdings: „Was er sagt, könnte kantiger sein“. Ihr „Idealbild“ der evangelischen Kirche beschrieb Lehmann mit den Worten: „Ich wünsche mir mehr Mut und Protest, mehr Aufstehen und Dagegenreden. Ziele dafür gibt es genug.“

Partei ergreifen für Arme, Randgruppen und Außenseiter

„Evangelische Identität bezieht die Kraft nicht so sehr aus Tradition und Brauchtum, sondern aus der Überzeugung, dass Menschen dort missionarisch tätig sind, wo sie das Evangelium, wo sie die biblische Botschaft glaubwürdig leben“, erklärte der Landessuperintendent der Evangelisch-Reformierten Kirche, Thomas Hennefeld, in seinem Vortrag „Evangelisch auf Österreichisch. Zwischen Herkömmlichkeit und Zukunftsoffenheit“. Nach einem ausführlichen Rückblick auf die evangelische Bewusstseinsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg resümierte der Landessuperintendent: „Wenn es nach 1945 das Credo der Kirche war: ‚Auf Grund der Erfahrungen mischen wir uns in Politik nicht ein‘, so versteht sich evangelische Kirche heute als wichtige Stimme im gesellschaftspolitischen Diskurs.“ Heute lebe evangelische Identität davon, „dass Evangelische in Österreich das Evangelium so ernst nehmen, dass man nur Partei ergreifen kann für die Armen, für Randgruppen und Außenseiter aller Art.“ Das Andenken an die Vorfahren und die Väter und Mütter der Reformationszeit bedeute, „für Menschen einzutreten, die wegen ihres Glaubens, ihrer Überzeugung, ihres Gewissens verfolgt werden“. Die Minderheitensituation sei nicht als Makel oder Defizit, vielmehr als Chance zu begreifen, sich für andere Minderheiten einzusetzen, die diskriminiert und verfolgt werden.

Aktuelle Herausforderungen

Als „neue Herausforderungen und Versuchungen“, vor denen die Kirche stehe, nannte der Landessuperintendent die Fragen der Nutzung der Atomenergie, die Frage der Neutralität, die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich und die Frage der Menschenwürde angesichts eines inhumanen Umgangs mit AsylwerberInnen und Flüchtlingen. Hennefeld: „In dieser Situation ist es notwendig, alternative Modelle zu entwickeln, vielleicht in biblischer Anlehnung, Modelle einer Kontrastgesellschaft zu den bestehenden Systemen, in deren Mittelpunkt Chancengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit stehen.“ Hennefeld betonte in seinem Vortrag, die Evangelische Kirche in Österreich sei „trotz ihrer Kleinheit“ nach wie vor Volkskirche „mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich bringt“.

Weichenstellungen in der Nachkriegszeit

Dass der österreichische Bischof Gerhard May entscheidende Weichen für die Identität der heutigen Evangelischen Kirche in Österreich gestellt habe, daran erinnerte bei der Tagung der Ministerialrat im Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur und Kirchenrechtler an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Karl W. Schwarz. Unter May, ursprünglich Pfarrer im slowenischen Cilli, dann von 1944 bis 1968 Bischof der Evangelischen Kirche A.u.H.B. in Österreich, habe sich die Kirche merklich verändert. Zunehmend habe sie nicht mehr als „Exponent des reichsdeutschen Protestantismus“ gegolten, sondern sei in Österreich beheimatet gewesen und als „unverzichtbarer Teil“ der österreichischen Gesellschaft anerkannt worden. Darüber hinaus habe sie sich durch den Beitritt zum Lutherischen Weltbund und zum Ökumenischen Rat der Kirchen gegenüber der Ökumene geöffnet.

Wie sind Glaube und Kirche messbar?

Dass Protestanten Geschichte „anders als Katholiken“ schrieben, darauf machte der Dekan der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Christian Danz, in einem Grußwort zur Tagung aufmerksam. Der Systematiker erläuterte, konfessionelle Identitäten seien „hochkomplexe Beschreibungen des Eigenen in Abgrenzung zum Anderen“. Aus soziologischer Perspektive griff der Professor für Wirtschaftsgeschichte am Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Wien, Jürgen Nautz, das Thema der Tagung auf. In seinem Referat „Evangelische Kirche zwischen Staat und Zivilgesellschaft“ vertrat Nautz die These, Zivilgesellschaft sei eine „alternative Form von Politik“, und moderne Kirchengeschichte müsse Kirche als Teil dieser Zivilgesellschaft sehen. Für den Wirtschaftshistoriker sind die großen Kirchen („Mainstreamkirchen“) nach wie vor „die zentralen Institutionen religiöser Organisation“. Sie würden unter der Frage diskutiert: „Wie kommt Moral in die Gesellschaft?“. Das wiederum werfe das Problem auf, wie die entsprechende Wirkung von Glaube und Kirche zu messen sei. Dabei müsse sich die evangelische Kirche in der Spannung gegenüber dem säkularen, nicht gegenüber dem römisch-katholischen Österreich behaupten.

Auf der Tagung, die vom 24. bis 25. Februar im Wiener Albert Schweitzer Haus stattfand, referierte auch der Kirchenhistoriker an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Rudolf Leeb über „Die evangelische Kirche in Österreich nach 1945 und ihre Suche nach einer neuen Identität“, die römisch-katholische Pastoraltheologin Regina Polak sprach zum Thema „Diaspora ist schöpferisch!?“, und in „Erzählcafés“ berichteten ZeitzeugInnen der älteren und jüngeren Generation über ihre Erfahrungen mit der evangelischen Kirche. Ein Grußwort sprach auch der Sektionschef des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur Kurt Nekula. Moderiert wurde die Tagung von Astrid Schweighofer, Gert Dressel, Klaus Thien und der Direktorin der Evangelische Akademie Wien, Waltraut Kovacic.

ISSN 2222-2464

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