19.11.2014

Sichtweise auf Bestrafung muss sich ändern

Expertinnen und Experten diskutieren Alternativen zum Strafvollzug

Strafe oder Wiedergutmachung - eine neue Sichtweise auf den Strafvollzug tut Not (Foto: Blick aus einem vergitterten Fenster/Uschmann/epdÖ)

Expertinnen und Experten diskutieren Alternativen zum Strafvollzug

Wien (epdÖ) – Die Gesellschaft muss ihre Sichtweise auf die Bestrafung ändern, sonst werden so tragische Fälle wie die im Juni publik gewordene schwere Misshandlung eines 74-jährigen Insassen der Justizanstalt Stein auch in Zukunft nicht ausbleiben. Das war der Tenor einer zweitätigen Diskussionsreihe zum Thema Strafrechtsethik, die von 17. bis 18. November in Wien stattgefunden hat. Organisatoren waren die „Plattform Strafrechtsethik“ der Evangelischen Gefängnisseelsorge Wien und die Evangelische Akademie Wien. Neben dem öffentlichen Diskurs sei auch eine großangelegte Gesetzesnovellierung notwendig.

„Wie wollen wir in unserer Gesellschaft strafen?“ Zu diesem Thema diskutierten am Montag die Kriminologin Katharina Beclin von der Universität Wien, Karin Dotter-Schiller von der Abteilung Strafvollzug des Justizministeriums sowie Christian Pilnacek, Leiter der Sektion Strafrecht des Justizministeriums. Besonders das Thema Maßnahmenvollzug wurde in dieser Runde kontrovers diskutiert. Kriminologin Beclin bezeichnete diesen etwa als „in seiner Funktion verfehlt“. Im Maßnahmenvollzug würden Täter, die das ihnen auferlegte Strafmaß bereits längst erfüllt hätten, aufgrund von in kürzester Zeit erstellten Gutachten noch jahrelang inhaftiert bleiben, wodurch den Menschen jede Hoffnung genommen werde. Deshalb müsse der Maßnahmenvollzug zumindest reformiert, wenn nicht sogar ganz abgeschafft werden, so Beclin. Karin Dotter-Schiller warb für eine Sensibilisierung und Anpassung von Begrifflichkeiten. Termini wie „geistig abnormer Rechtsbrecher“ dürften in einer modernen Rechtsprechung keinen Platz mehr haben. Pilnacek mahnte, dass beim Maßnahmenvollzug der Mensch immer im Vordergrund stehen müsse. Handelt es sich dabei beispielsweise um einen psychisch kranken Menschen, habe dieser auch als kranker Mensch behandelt zu werden. Die Verhältnismäßigkeit sei hier der springende Punkt, so Pilnacek.

Der Dienstagabend stand unter dem Thema „Strafen und Versöhnen – worin besteht die zivilgerichtliche Verantwortung?“ Dazu diskutierten Nicole Lieger, von der Initiative „re-just“, der Historiker und Slawist Matthias Morgner, Angela Püspök von der Sozialen Gerichtshilfe, Petra Stuiber von der Tageszeitung „Der Standard“ sowie Andreas Zembaty vom Verein „Neustart“. Für Andreas Zembaty habe Strafe nur dort eine Berechtigung, wo sie auch sinnvoll sei. Trotzdem müsse es das Ziel sein, den Strafvollzug in Zukunft durch eine bessere Alternative zu ersetzen. Täter-Opfer-Begegnungen unter Moderation sei beispielsweise solch eine Option. Hier könne sich der Täter aktiv dem Opfer erklären und sich dessen Reaktion stellen. Dabei würde viel eher eine Entlastung beim Opfer entstehen als durch irgendeine anonyme Strafe. Nicole Lieger konstatierte, dass Schuldzuweisungen prinzipiell der falsche Weg seien. Viel wichtiger sei es zu versuchen, die Schäden der Opfer zu lindern, als nur darüber nachzudenken, wie man dem Täter schaden könne. Natürlich gebe es auch schwerste Verbrechen, wo eine Strafe für die Opfer wichtig sei. In den allermeisten Fällen sei aber die „Wiedergutmachung“ das entscheidende Moment für die Opfer.

Für Petra Stuiber darf nicht die Strafe im Vordergrund stehen, sondern die Konsequenz müsse das Entscheidende sein. Man strafe ja auch nicht einfach seine Kinder, vielmehr versuche man, Wege zu finden, damit gewisse Dinge in Zukunft nicht mehr passieren. Deswegen sei auch der Strafvollzug für erwachsene Menschen das falsche Mittel. Stuiber wünscht sich von der Gesellschaft eine liberalere Haltung in Bezug auf Strafe und nicht immer nur die bekannten medialen Aufschreie, wenn es wieder einmal zu einem Justizskandal kommt.

Viele seien schon alleine durch die Tat und dessen Folgen gestraft genug, sagte Matthias Morgner. Im Kontakt mit russischsprachigen Strafinsassen hat der Slawist oft eine nicht vorhandene Verhältnismäßigkeit erkannt. Ausländer würden beispielsweise viel schneller und länger festgehalten als Österreicher. Angela Püspök betonte, dass es ein neues Selbstverständnis von Freiheitsgedanken in der Gesellschaft benötige, um festgefahrene Denkansätze zu ändern. Derzeit lägen viele Dinge im Justizwesen „im Argen“, meinte Püspök. Diese „heißen Eisen“, wie Maßnahmenhaft oder Gutachterwesen, gehörten bei einer Strafrechtsreform auf jeden Fall angefasst, ist Püspök überzeugt. 2015 soll es zu einer Strafrechtsreform kommen, deren konkreter Umfang jedoch noch offen ist.

Moderiert wurden die Diskussionsabende von Kirchenrätin Andrea Sölkner und dem Generalsekretär der Lebenshilfe Österreich, Albert Brandstätter.

ISSN 2222-2464

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Justiz | Tagung

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