12.06.2019

Bettini: Schließung von Grenzen leugnet Freiheit

Italienischer Philologe plädiert in Fresach für ein offenes Europa

„Wir erleben, wie einige Länder sich gegen die Welt jenseits ihrer Grenzen verschließen und gleichzeitig nach innen hin autoritär regieren. Das sollte uns zu denken geben!" Der Philologe Maurizio Bettini bei der Eröffnung der Toleranzgespräche in Fresach. Foto: publicdomainpictures

Italienischer Philologe plädiert in Fresach für ein offenes Europa

Fresach (epdÖ) – „Die Entscheidung für die Schließung ist eine absolute Entscheidung, die per definitionem Freiheiten leugnet, Freiheit jedermann verwehrt, egal, ob er Ausländer oder Inländer ist.“ Ein historisch begründetes Plädoyer für ein offenes Europa hat der italienische Sprach- und Literaturwissenschaftler Maurizio Bettini am Donnerstag, 6. Juni, bei den Europäischen Toleranzgesprächen in Fresach gehalten. Europa, so Bettini, gehöre nicht jenen, die ihrem Kontinent die „Tradition schlechthin“ verordnen wollen, die die einzig wahre Identität des europäischen Kontinents oder seiner Länder zu repräsentieren habe. Europa gehöre vielmehr jenen, „die sich für eine Tradition, nämlich die gerechteste, offenste und für alle akzeptabelste Tradition zu entscheiden wissen. Eine Tradition der Gleichheit, Klugheit, Weitsicht. Eine Tradition, die unseren Kindern und Enkeln Freiheit sowie gleiche Rechte sichert und aus ihnen gute Bürger, gute Menschen macht.“

In seiner Eröffnungsrede sondierte der in Brixen geborene und in Siena lehrende Bettini das historische Fundament des heutigen Europa auf der Apenninenhalbinsel: Am Anfang des römischen Reichs seien es trojanische Flüchtlinge gewesen, sie sich mit den einheimischen Latinern vermischten und die Grundlage zur späteren Weltmacht gelegt hätten. Zu allen Zeiten, so die weiterführende These Bettinis,  seien diejenigen Gesellschaften anderen überlegen gewesen, die es verstanden hätten, unterschiedliche Kulturen zu integrieren und zum Vorteil aller zu nutzen.

Durchmischung für alte Römer Kraft, nicht Schwäche

In der Durchmischung hätten die Römer „Kraft, nicht Schwäche“ gewesen. Gerade die Weigerung, sich mit anderen Menschengruppen zu vermischen, hatte die Chancen auf Bestand bei jenen Völkern unterhöhlt, die sich dem „Mythos der Schließung, der Trennung und der eigenen Reinheit“ verschrieben hatten. Er selbst, betonte Bettini, habe sich nie mit der Vorstellung abgefunden, dass die kulturelle Zugehörigkeit, die wir gemeinhin „Identität“ nennen, von „Wurzeln“ oder den Tiefen der Tradition ableitbar sei. Kulturelle Wurzeln seien nichts weiter als eine irreführende Metapher. In Wirklichkeit sei kulturelle Identität, wenn es sie überhaupt gibt, ein lebendiges, oft gar nicht fassbares Phänomen, und Traditionen vielfältige, verschwommene Dinge, die sich im Laufe der Zeit unzählige Male wandeln und sich stets neu mit anderen Traditionen verknüpfen.

Doch es gebe in Europa auch Länder, in denen die Regierungen den Weg der Schließung und der Absperrungen gewählt hätten, weil sie ausschließende Identitäten und deren vermeintliche Reinheit schützen wollten. Auch in seinem Heimatland Italien seien solche Tendenzen zu beobachten. „Wir erleben, wie einige Länder sich gegen die Welt jenseits ihrer Grenzen verschließen und gleichzeitig nach innen hin autoritär regieren. Das sollte uns zu denken geben! Denn in dem Maße wie Menschenrechte wie das Recht auf Asyl und Aufnahme verletzt werden, steht auch die Missachtung von Bürgerrechten auf der Tagesordnung, etwa das Recht auf freie Meinungsäußerung.“

Maurizio Bettini, geboren 1947 im Südtiroler Brixen, lehrt als Professor für klassische Philologie an der Universität Siena und leitet das Institut für Anthropologie der antiken Welt. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher zur Mythologie und Anthropologie und schreibt regelmäßig für die Tageszeitung „La Repubblica“.

ISSN 2222-2464

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