09.05.2021

Liebe Eva

Julia Schnizlein schreibt einen Brief an die „Mutter aller Lebenden“

"Die Erzählung von Sündenfall und Erbsünde wurde zur Basis für ein patriarchales Kirchensystem und prägte viele Jahrhunderte das christliche Frauenbild. Weiblichkeit, Verführung und Sünde gehörten untrennbar zusammen." Foto: wikimedia/Courtauld Institute of Art

Julia Schnizlein schreibt einen Brief an die „Mutter aller Lebenden“

Liebe Eva,

man sagt: Baum, Schlange, Apfel, nackte Frau – und alle wissen wer gemeint ist. Du. Eva. Die erste Frau, die in der Bibel erwähnt wird. Frau des Adams. Die mit dem Apfel eben. Dabei war es noch nicht einmal ein Apfel. Eher eine Feige. Aber so genau hat man das im Lauf der Geschichte nicht genommen. Und so wurdest Du, die „Urmutter“ über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg umgedeutet und stigmatisiert: Als Sünderin, als Verführte und Verführerin. Du wurdest zum diabolischen Widerpart der reinen Jungfrau Maria und warst verantwortlich für den „Sündenfall“. Auch wenn das Wort Sünde im biblischen Text gar nicht vorkommt.

Für die Kirchenväter war jedenfalls klar: Du und damit die Frau ist schuld, dass die Menschen aus dem Paradies vertrieben wurden. Hättest Du nicht in diese Frucht gebissen und Adam angeblich mit sexuellen Reizen verführt (auch davon steht nichts in der Bibel), wären die Menschen nicht kollektiv schuldig geworden und hätten keiner Erlösung bedurft.

Die Erzählung von Sündenfall und Erbsünde wurde zur Basis für ein patriarchales Kirchensystem und prägte viele Jahrhunderte das christliche Frauenbild. Weiblichkeit, Verführung und Sünde gehörten untrennbar zusammen. Bis heute hat der Eva-Mythos Spuren hinterlassen. Noch immer gibt es Menschen, die Frauenkörper und Schuld in Zusammenhang stellen. Und noch immer gibt es Frauen, die ihren Körper nicht gut annehmen können.

Die gute Nachricht ist, dass es heute auch andere Erzählweisen über Dich gibt. Viele nehmen Dich wieder als das wahr, was Du bist: „Mutter aller Lebenden“, „Leben-Schenkende“. Du bist die erste Frau, die im wahrsten Sinn des Wortes „zur Welt“ gekommen ist. Die Vertreibung aus dem Paradies vergleichen heute manche mit dem Vorgang der Geburt. Während im Mutterleib nahezu paradiesisch für alles gesorgt ist, fängt mit dem ersten Schrei das neue Leben an. Dazu gehören Arbeit, Mühe und Schmerzen. Aber eben auch Freude, Lernen und Lust. Verantwortung gehört dazu, für uns selbst und für die Schöpfung. Erkenntnis, Wissen und Freiheit.

Liebe Eva, natürlich weiß ich, dass Du eine mythologische Figur bist. Trotzdem schreibe ich Dir, um Dich, die Urmutter mehrerer Religionen, am Muttertag hochleben zu lassen.

Deine Julia

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@juliandthechurch

ISSN 2222-2464

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