07.02.2021

Körtner: „Aus christlicher Sicht ist niemand zum Weiterleben zu zwingen“

Theologe will Sterbewünsche „nicht pathologisieren“, sondern ernst nehmen

„Über die Möglichkeit des Suizids zu sprechen, kann eine enorm befreiende Wirkung haben, weil der Betroffene nun nicht mehr mit seinen Gedanken allein ist.“ Foto: pxhere

Theologe will Sterbewünsche „nicht pathologisieren“, sondern ernst nehmen

Wien/Berlin (epdÖ) – In der im vergangenen Jahr wieder aufgeflammten Debatte um Sterbehilfe und assistierten Suizid hat der evangelische Theologe und Medizinethiker Ulrich Körtner Kirchen und diakonische Einrichtungen dazu aufgerufen, „dem Leben zu dienen“, aber Sterbewünsche von schwerkranken Personen ernst zu nehmen. Insbesondere in Deutschland war ja eine Diskussion darüber entfacht, ob kirchliche Institutionen Beihilfe zum Suizid leisten sollten, um Betroffene nicht Unternehmen mit Profitinteressen auszusetzen. In einem Vortrag vor Führungskräften des Kaiserswerther Verband deutscher Diakonissenmutterhäuser sagte Körtner am Montag, 1. Februar: „Aus christlicher Sicht ist niemand zum Leben oder Weiterleben zu zwingen, wohl aber zum Leben zu ermutigen.“ Sterbewünsche seien nicht pauschal zu pathologisieren, dürften „aber auch nicht unbedacht als Ausdruck eines autonomen Willens und einer wohlüberlegten freien Entscheidung genommen werden“. Vielmehr könnten sie ein „Hilferuf und ein Symptom für tieferliegende Probleme sein, auf die eine andere Antwort als die Umsetzung des Suizidwunsches in die Tat gegeben werden muss“. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich hatten die Verfassungsgerichtshöfe 2020 den Weg für eine legale Beihilfe zum Selbstmord freigemacht.

Leben als Gabe und Aufgabe

Das leibliche Leben, so Körtner, sei als „Gabe“, nicht aber als „Geschenk“ zu verstehen – denn ein Geschenk könne auch beliebig weitergeschenkt oder zerstört werden. Eine Gabe sei aber immer zugleich „Aufgabe“; wie damit umzugehen sei also eine Frage der Verantwortungsethik. Eine christliche Ethik habe sich dabei an der Bibel zu orientieren. Gleichwohl könne aus dieser keine einhellige Position zur Frage der Sterbehilfe abgeleitet werden: „Es entspricht der grundlegenden evangelischen Sichtweise von Sünde, Glaube und Rechtfertigung, von Freiheit, Liebe und Verantwortung vor Gott und den Menschen sowie den Grenzen der Ethik und des Ethischen, wenn eine solche Handlungsweise im konkreten Einzelfall dem göttlichen Urteil überlassen bleibt.“ Gleichwohl seien der Einsatz für das Leben und die Entscheidung für den Tod aus christlicher Perspektive keine gleichrangigen Optionen.

Der in Deutschland debattierte Vorschlag, die Diakonie könne Menschen mit Suizidwunsch bei dessen Ausführung begleiten, sei deshalb „abwegig“. Derartige Ansinnen führten dazu, das Ansehen der Diakonie in der Öffentlichkeit „als dem Leben und dem Schutz jeglichen Menschenlebens aus christlichem Geist und aus dem Evangelium verpflichteter Organisation“ zu beschädigen. Zudem sei es nicht gerechtfertigt, jede Form der Suizidbeihilfe „unter den Generalverdacht der Geschäftsmäßigkeit zu stellen“.

Benelux-Staaten zeigen: Angebot steigert Nachfrage

Körtner erwartet durch die Legalisierung der Beihilfe zum Suizid Auswirkungen auf die gesellschaftliche Einstellung zu Leben und Tod. Diese wiederum beeinflusse die individuelle Wahrnehmung von Menschen, die entweder selbst oder als Angehörige mit der Option auf begleiteten Selbstmord konfrontiert sind. Denn die Entwicklung in den Benelux-Staaten zeige, dass durch die Erweiterung des Angebots auch die Nachfrage wachse. Vor diesem Hintergrund plädiert Körtner für offene, vertrauliche und aufklärende Gespräche mit Ärztinnen und Ärzten: „Wer weiß, wie er sich im Zweifelsfall einigermaßen schmerzlos das Leben nehmen kann, wird von dieser Möglichkeit vielleicht am Ende gar nicht Gebrauch machen. Über die Möglichkeit des Suizids zu sprechen, kann aber eine enorm befreiende Wirkung haben, weil der Betroffene nun nicht mehr mit seinen Gedanken allein ist.“

In Deutschland hatten sich in einem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Diakonie-Präsident Ulrich Lilie, der Theologe Reiner Anselm und die Theologin Isolde Karle sowie der hannoversche Landesbischof Ralf Meister, der Jurist Jacob Joussen und der Palliativmediziner Friedemann Nauck für die Möglichkeit des assistierten Suizids in evangelischen Einrichtungen ausgesprochen. Vom Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, kam dazu eine Absage. Zuletzt war der Konflikt Thema in einer Ratssitzung der EKD (www.evangelisch.de).

Den Vortrag von Ulrich Körtner finden Sie als fünfteiligen Beitrag zum Nachlesen auf: www.zeitzeichen.net

ISSN 2222-2464

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