16.12.2015

Hilfsorganisationen schlagen Alarm bei Flüchtlingsunterbringung

Diakonie-Direktor Chalupka: "Erstaufnahmesystem ist zusammengebrochen"

Walter Marschitz (Hilfswerk), Michael Chalupka (Diakonie), Erich Fenninger (Volkshilfe) und Reinhard Hundsmüller (Samariterbund) fordern eine bessere Versorgung von Flüchtlingen. (Foto: epdÖ/T.Schönwälder)

Diakonie-Direktor Chalupka: „Erstaufnahmesystem ist zusammengebrochen“

Wien (epdÖ) – Vertreter führender NGOs schlagen angesichts der prekären Situation bei der Unterbringung von Flüchtlingen Alarm: „Das Erstaufnahmesystem, wie es gesetzlich vorgesehen war, ist zusammengebrochen“, erklärte Michael Chalupka, Direktor der evangelischen Diakonie, stellvertretend für die Vertreter von Caritas, Hilfswerk, Rotem Kreuz, Samariterbund und Volkshilfe am Dienstag, 15. Dezember, bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in Wien. Rund 7.000 Flüchtlinge seien derzeit in Notquartieren untergebracht und das, „obwohl sie schon in Grundversorgungseinrichtungen sein müssten“. Bis Jahresende fehlen laut NGOs 15.000 Plätze. Gemeinsam haben die Organisationen nun Maßnahmen ausgearbeitet, die die Versorgung, Unterbringung und Integration der Flüchtlinge in geordnete Bahnen lenken soll.

Täglich werden aktuell 300 bis 400 Asylanträge gestellt, viele der Antragsteller landen danach direkt auf der Straße oder in prekären Notquartieren, kritisierten die NGO-Vertreter. Die gesetzliche Regel, wonach innerhalb von 48 Stunden polizeilich in einer Prognoseentscheidung abgeklärt werden muss, ob die Dublinregelung greift oder Österreich für die Ab-wicklung des Asylverfahrens zuständig ist, sei schon lange aus dem Ruder geraten. Mit schwerwiegenden Folgen: „Denn erst nach der Prognoseentscheidung haben Asylwerber das Recht, in die Grundversorgung aufgenommen zu werden“, erläutert Chalupka. Aus den 48 Stunden seien „Monate geworden“, so der Diakonie-Direktor weiter. Treffen würde das vor allem unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF). „Dort dauert wegen der Altersfeststellung alles noch länger. Oft vergehen sechs Monate bis zum Erstgespräch.“ Aktuell warten rund 1.300 UMF im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen auf die Überstellung in altersgerechte Quartiere im Rahmen der Grundversorgung.

Chalupka präsentierte einen gemeinsamen Lösungsvorschlag: „Die Erstaufnahme und die Aufnahme in die Grundversorgung müssen in Zukunft einheitlich von den Länder durchge-führt werden. Mit je einem leistungsfähigen Verteilungszentrum in jedem Bundesland.“ Außerdem brauche es einen Mechanismus des Ausgleichs zwischen den Bundesländern. Hat ein Bundesland seine Quote erfüllt, soll es durch andere Bundesländer entlastet werden. Schließlich müssten die Aufnahme in die Grundversorgung von der Prognoseentscheidung losgekoppelt werden.

Die Finanzierung der neuen Erstaufnahmezentren legen die NGOs in den Verantwortungs-bereich der Länder. Der Bund soll im Gegenzug rund 70 Prozent der Tagsätze in der Grund-versorgung übernehmen, die zurzeit durch die Länder beglichen werden. Wie eine solche Regelung funktionieren kann, zeige sich derzeit in den Bundesländern Wien und Niederösterreich, „die aus der Not heraus ein neues System entwickelt haben, weil das alte nicht mehr funktioniert“, so Chalupka.

Deutschkurse von der ersten Stunde an

Die größte Herausforderung stehe aber noch bevor. „Nämlich dann, wenn die Zehntausenden Flüchtlinge und ihre noch zu erwartenden Familienangehörigen in die österreichische Gesellschaft und Arbeitswelt zu integrieren sind“, sagt Walter Marschitz, Geschäftsführer des Hilfswerks. „Wir haben Sorge, dass, wenn wir diese Aufgabe nicht rasch und entschlossen angehen, die sozialen Probleme von morgen vorprogrammiert sind. Das berge großen sozialen Sprengstoff.“

Frühzeitige Integrationsmaßnahmen seien daher ein besonderes Anliegen. Deutsch- und Alphabetisierungskurse müssten in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen, genau wie adäquate Bildungsangebote und die Hilfe bei der Anerkennung bereits absolvierter Ausbildungen. „Asylsuchende, die sich nicht mehr im schulpflichtigen Alter befinden, sind weitestgehend von außerschulischen Bildungsangeboten ausgeschlossen. Erst mit positivem Abschluss des Asylverfahrens erhalten diese Personen einen kostenlosen Zugang zu Deutsch-Basisbildungs- oder Hauptschulabschlusskursen“, erklärte Reinhard Hundsmüller, Bundes-geschäftsführer des Samariterbundes. Änderungsbedarf sehen die NGOs auch bei der Organisation und Durchführung der Deutschkurse. „Die Rechts- und Kompetenzenlage ist hier sehr verworren. Innerhalb der Regierung gibt es verschiedene Zuständige. Das Innen-, Integrations- und Außenministerium, aber auch das AMS“, so Hundsmüller.

Negativ auf die Integration könne sich auch die Novellierung des Asylrechtes im Bereich der Familienzusammenführung auswirken, warnte Werner Kerschbaum, Generalsekretär des Österreichischen Roten Kreuzes. Entsprechende frühzeitige Integrationsmaßnahmen könnten so verhindern, dass „aus der Quartierskrise von heute die Integrationskrise von morgen wird“, betonte Bernd Wachter, Generalsekretär der Caritas. „Zudem braucht es dringend leistbaren Wohnraum für alle Menschen in Österreich. Nur wer über leistbaren Wohnraum verfügt und Zugang zum Arbeitsmarkt hat, kann einen gesellschaftlichen Beitrag leisten.“ Kurzfristige Kosten und Investitionen würden sich mittel- und langfristig rechnen, so der Caritas-Experte weiter. „Angesichts der Tatsache, dass wir eine alternde Gesellschaft sind, müssen wir die großen Chancen und Potentiale der zu uns flüchtenden Menschen erkennen.“

50.000 bald ohne Anspruch auf Hilfe

Bis Jahresende rechnet die Regierung mit rund 90.000 Asylanträgen, von denen rund 40 Prozent positiv beschieden werden. Im Umkehrschluss bedeute das: „Bald werden rund 50.000 Menschen ohne Anspruch auf Hilfe auf der Straße stehen“, warnten die NGO-Vertreter. „Angesichts dieser Zahlen muss man sich überlegen, wie man mit diesen Menschen umgeht.“

Mehr Solidarität innerhalb der EU forderte der Bundesgeschäftsführer der Volkshilfe, Erich Fenninger. Es sei eine „Schande“, dass nur acht Länder Flüchtlinge aufnehmen, doch müssten auch in Österreich einige Bundesländer endlich mehr Anstrengungen für die Unterbringung zeigen. „Und wir brauchen die Sicherheit vom Innenministerium, dass die unterschiedlichen Leistungen in einem einheitlichen und transparenten Tagsatzsystem auch angemessen bezahlt werden.“ Die nötige Klarheit würde die Trennung des Entgelts für Wohnen und Betreuung der Asylwerber schaffen. „Derzeit werden ähnliche Unterkünfte in den einzelnen Bundesländern völlig unterschiedlich oder gar nicht gefördert. Das kann und darf nicht so bleiben“, kritisiert Fenninger.

ISSN 2222-2464

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