27.07.2022

Geflohener lutherischer Erzbischof: „Wir alle sind Geiseln dieser Situation“

Bei einem Online-Vortrag warnte Dietrich Brauer vor Gewöhnungseffekten angesichts des Krieges in der Ukraine

Dietrich Brauer beim Online-Vortrag: „Es darf keine Pause geben in den Gebeten.“ (Screenshot: epd/Dasek)

Bei einem Online-Vortrag warnte Dietrich Brauer vor Gewöhnungseffekten angesichts des Krieges in der Ukraine


Wien (epdÖ) – „Wir brauchen Worte. Worte, die trösten, die prophetisch sind, die weiterführend sind und die Augen öffnen, aber auch Worte, die niemanden in Gefahr bringen.“ Das betonte Dietrich Brauer, ehemaliger Erzbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche Russlands, bei einem Online-Vortrag der Evangelischen Akademie Kärnten am Dienstag, 26. Juli. Nachdem Brauer im Februar 2022 in einer Predigt Kritik an der russischen Staatsführung geäußert und auch deren Aufforderung abgelehnt hatte, die „Spezialoperation“ gegen die Ukraine öffentlich gutzuheißen, musste er wegen drohender Repressalien im März 2022 mit seiner Familie nach Deutschland fliehen und trat von seinem Amt zurück.

„Wir können tausendmal von den Kanzeln von Liebe sprechen, aber einmal wird es ganz konkret, da kann man nicht wegschauen“, sagte Brauer bei dem Online-Vortrag. „Für mich, meine Familie und unsere Kirche ist nichts mehr so, wie es vor dem 24. Februar war“, so Brauer weiter. Der Tag hätte alle in Schock versetzt – dass es zu einem Krieg komme, hätte niemand erwartet – „Unvorstellbares“ sei inzwischen passiert. Wenn ein Staat seine Macht missbrauche, Menschlichkeit verloren gehe und stattdessen Entmenschlichung um sich greife, gelte es, „nicht wegzuschauen und der Wahrheit ins Gesicht zu blicken“. Dennoch bliebe nur wenig, was ein*e Einzelne*r machen könne, „wir alle sind Geiseln dieser Situation“. Fehlende Antworten machten müde, aber „das ist zugleich Wasser auf den Mühlen der Kriegstreiber“. Deutlich warnte Brauer vor dem schrittweisen Abwehrmechanismus, „dass man sich auch an das Schlimmste gewöhnt“. Im Reigen der schlechten Nachrichten dürfe die Situation in der Ukraine „nicht zur Routine“ werden.

Im Rahmen der Abendveranstaltung setzte sich Brauer mit der Frage auseinander, wie sich eine Kirche dem Evangelium entsprechend verhalten kann gegenüber einem Staat, der einen Angriffskrieg führt und freie Meinungsäußerung unterdrückt. „Die Ukraine ist nicht nur ein Nachbarland Russlands. Da verbindet so vieles die Menschen – familiär, gesellschaftlich, kulturell“, erklärte Brauer, der in persönlichen Gesprächen und in Gebeten Kraft schöpft. „Das Gebet für den Frieden ist das Mindeste, was wir in Deutschland tun können“, meinte Brauer, der selbst Friedensgebete organisiert hat. Für ihn ist die Glaubensgemeinschaft ein „lebendiger Organismus“. Christus schenke Gemeinschaft über alle Grenzen hinweg, „wir brauchen Gottvertrauen, Hoffnung, um beharrlich im Gebet zu bleiben“. Brauer: „Es darf keine Pause geben in den Gebeten, weil auch der Krieg den Menschen keine Pause gönnt.“ Notwendig sei auch das kritische Wächteramt der Kirchen. Es lasse „unsere Herzen intakt bleiben – und im Takt zu Gottes Wahrheit schlagen“, sagte Brauer.

Dietrich Brauer wurde 1983 in Wladiwostok in einer russlanddeutschen Familie geboren. 2014 wurde er Erzbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland (ELKR). Mit ihm war erstmals ein einheimischer Theologe leitender Geistlicher der rund 20.000 lutherischen Christinnen und Christen in fast 300 Gemeinden auf dem Gebiet der Russischen Föderation. Aufgrund des Angriffskrieges gegen die Ukraine hält sich der frühere Erzbischof derzeit mit seiner Familie in Deutschland auf. Hier hat er an Friedensgebeten teilgenommen und sich mehrfach gegen den Krieg gegen die Ukraine positioniert. Dabei hatte er gegenüber Medien erklärt, dass Religionen nicht zur Rechtfertigung des Krieges instrumentalisiert werden dürften. Am 8. Juni 2022 wurde Wladimir Proworow, vorher Propst in Uljanowsk, bei einer außerordentlichen Generalsynode in St. Petersburg zum neuen Erzbischof der ELKR gewählt.

ISSN 2222-2464

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