26.09.2021

Das Sterben ist politisch

Maria Katharina Moser über existenzielle Solidarität

"Der Tod wird verdrängt. Die Sterbenden werden von der Bühne des gesellschaftlichen Lebens fortgeschafft hinter den Vorhang." Foto: piqsels

Maria Katharina Moser über existenzielle Solidarität

„Wissen Sie was: Sie sterben.“ Diesen direkt an die LeserInnen gerichteten Satz habe ich unlängst in einer Kolumne der deutschen Autorin Caroline Kraft gelesen. Die harte Sprache hat mich erschreckt. Aber das Plädoyer für ein unverblümtes Hinschauen auf das Sterben schien mir interessant. Also habe ich den Text auf Social Media geteilt. Die Reaktionen waren überraschend positiv. Viele Likes, einige Kommentare, in denen sich Leute meinten, der Gedanke sei wichtig. Daher möchte ich ihn heute auch mit Ihnen hier teilen.

„Eine Prise bewusste Sterblichkeit“ würde unserer Gesellschaft gut tun, meint Caroline Kraft: „Wenn wir aufhören würden, dermaßen angestrengt in eine andere Richtung zu schauen, wenn wir anfangen würden zu begreifen, dass der Tod eines der wenigen Dinge ist, die wir alle gemeinsam haben, könnte das zu echter existenzieller Solidarität führen.“ Dabei ist Caroline Kraft keineswegs todesverliebt. Der Tod mache ihr Angst, doch sie sei sich sicher: „Der Konfrontation mit der Vergänglichkeit wohnt eine politische Kraft inne, die wir nutzen sollten.“

Einen ähnlichen Gedanken finden wir in der Bibel. „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, bittet der Beter Gott in Psalm 90.

Die Sterblichkeit gehört zum Menschsein. Unverfügbar. Das passt nicht zum Zeitgeist, der uns dazu treibt, alles zu optimieren und zu kontrollieren. Den Tod bringen wir – allem medizinischen Fortschritt zum Trotz – nicht unter Kontrolle. Also wird der Tod verdrängt. Die Sterbenden werden von der Bühne des gesellschaftlichen Lebens fortgeschafft hinter den Vorhang. Das schafft Einsamkeit.

Sterblichkeit bedenken heißt: Sehen, dass das Sterben die letzte große Herausforderung ist, der wir uns im Leben stellen müssen. Die Sterbenden auf die Bühne holen. Das Sterben ist deshalb nicht weniger schlimm, aber weniger einsam. Existenzielle Solidarität heißt da sein für und da bleiben bei Sterbenden, aber auch bei Trauernden, die allzu oft denken, sie müssten sich zurückziehen, dürften andere nicht mit ihrem Schmerz belasten.

Politisch weitergedacht heißt das: flächendeckender Ausbau von Palliativ- und Hospizversorgung und eine echte Pflegereform. Die Bewältigung jener Lebensphase, in der wir die Vergänglichkeit am eigenen Leib erleben, langsamer und gebrechlicher werden, bis wir uns aus diesem Leben verabschieden müssen, ist keine Privatsache. Sondern eine Frage existenzieller Solidarität.

ISSN 2222-2464

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