01.04.2020

Bereuen und vergeben

Maria Katharina Moser über ein besonderes Geschenk

"Reue ist nicht eine Vorbedingung für Vergebung, sondern eine Folge, sagt Miroslav Volf. Das Geschenk der Vergebung ermöglicht Reue." Foto: pixabay

Maria Katharina Moser über ein besonderes Geschenk

Warum sollte ich ihm oder ihr vergeben? Er hat sich doch gar nicht entschuldigt! Sie meint doch, gar nichts Böses getan zu haben! Diese Frage stellen sich viele von uns. Zurecht. Wir denken, dass Vergebung eine Voraussetzung hat: Bereuen. Ohne Reue wäre Vergebung billig. Würden wir den Schuldigen einfach so davonkommen lassen.

Hängt Vergebung davon ab, ob die Schuldige ihre Tat bereut? Der evangelische Theologe Miroslav Volf erzählt dazu folgende Geschichte: Esther war neun Jahre alt, als ihre Mutter, eine Alkoholikerin, sie verlassen hat. Das hat Esther zutiefst verletzt. Sie wollte nichts mehr wissen von der Mutter. Doch als sie Mitte zwanzig war, bekam Esther ein schlechtes Gewissen, weil sie nie versucht hatte, Kontakt zur Mutter aufzunehmen. Und sie entschied sich, ihre Mutter aufzusuchen. Es war ein sehr emotionales Wiedersehen. Nach dem Abendessen gab Esther ihrem Herzen einen Stoß und erzählte der Mutter, dass sie sich als kleines Mädchen geschworen hatte, die Mutter nie mehr zu lieben. Das gelte jetzt nicht mehr. Und sie bat ihre Mutter um Vergebung, dass sie sich nie gemeldet hatte. „Natürlich, Esther, ich vergebe dir“, sagte die Mutter, und beide weinten. Esther wartete, dass die Mutter sie nun ihrerseits um Vergebung bitten würde für alles, was sie ihr angetan hatte. Aber nichts kam. Kein Wort der Reue. Keine Bitte um Vergebung. Da gab Esther ihrem Herzen zum zweiten Mal einen Stoß und sagte: „Mama, du hast mich tief verletzt, als ich klein war. Es war sehr schlimm für mich, dass du gegangen bist. Aber du sollst wissen, dass ich dir vergebe.“ Da brauch die Mutter in bittere Tränen der Reue aus und wiederholte immer wieder: „Es tut mir so leid, Esther, es tut mir so leid.“

Mich berührt diese Geschichte sehr. Sie zeigt mir, wie schwer Schuld und Scham drücken. So schwer, dass es uns nahezu unmöglich wird, uns aus eigenem Antrieb zu entschuldigen. Vielleicht auch, weil die Schuld so schwer wiegt, dass wir uns gar nicht vorstellen können, dass unser Gegenüber, das wir so verletzt haben, uns vergibt.

Ja, Reue und Vergebung gehören zusammen. Es stellt sich aber die Frage nach der Reihenfolge: Was kommt zuerst? Reue ist nicht eine Vorbedingung für Vergebung, sondern eine Folge, sagt Miroslav Volf. Das Geschenk der Vergebung ermöglicht Reue. Diesen Gedanken möchte ich Ihnen mitgeben in die letzten Tage der Passionszeit.

ISSN 2222-2464

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Moser | Volf

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